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„Straße des Lebens“ führt über das Eis

Blockade von Leningrad endete vor 75 Jahren

Es ist eines der größten Kriegsverbrechen des Dritten Reiches: die Blockade von Leningrad. Zweieinhalb Jahre lang belagerte die deutsche Wehrmacht Leningrad, das heutige St. Petersburg. Fast eineinhalb Millionen Menschen starben an Hunger, Erschöpfung oder durch die Bomben der Luftwaffe. Der Horror dauerte 872 Tage. Auch nach 75 Jahren erinnern sich die Überlebenden an das Schreckliche, wie eine Frau, die damals zu einer Löschbrigade gehörte: „Eine Mutter lag da, neben ihr krabbelte noch das Kind. Aber die Mutter war schon tot. So etwas haben wir gesehen. Denn zu unseren Verpflichtungen gehörte es, nicht nur Brände zu löschen, sondern auch Leichen einzusammeln.“

Hitler und seine Generäle wollten die Bewohner von Leningrad gezielt aushungern. Eine Einnahme der zweitgrößten Stadt der UdSSR wäre zu schwierig geworden, die Wehrmacht fürchtete Straßenkämpfe. Also kamen die Nazis auf die perfide Idee, Leningrad von der Außenwelt abzuschneiden. In den ersten Wochen sei man noch erschrocken, wenn plötzlich Tote in den Straßen lagen, dann aber hätten sich die Menschen an die vielen Leichen gewöhnt, erzählen Überlebende. Unvorstellbar, die Zustände in der gequälten Stadt, wie sich Lilija Boikowa erinnert: „Die Ratten waren überall, auch sie hatten Hunger. Meine Mutter erzählte, einmal kam sie in mein Zimmer und auf meinem Kissen war viel Blut. Wir Kinder waren offenbar so kraftlos, dass wir uns nicht wehren konnten.  So kam eine Ratte, ich war damals acht Jahre alt und biss mir mein Ohr ab.“

In den Geschäften gab es nichts zu kaufen, für die einfachen Leute gab es keine Nahrungsmittel. Hinzu kam die bittere Kälte mit zeitweise 30 Grad minus, erinnert sich Wassili Kuritziin, vor 75 Jahren ein junger Mann. „Es fuhren Lkws beladen mit Hungertoten durch die Straßen. Viele starben auch wegen der Kälte. In den Wohnungen gab es keine Heizungen und der Frost war schrecklich. Die Menschen, die ohnehin fast verhungert waren, erfroren dann noch in ihren Häusern.“

Hitlers Luftwaffe warf insgesamt über 66.200 Brandbomben und fast 4.700 Sprengbomben ab. Doch die Leningrader ergaben sich nicht. Im November 1941, der Belagerungsring hatte sich am 8.September 1941 geschlossen , entstand bereits die sogenannte „Straße des Lebens“. Über den zugefrorenen Ladogasee, fuhren in tiefster Dunkelheit Militärlaster über das zugefrorene Eis.

Der Historiker Jurij Nikiforow (Foto oben), Dozent am Institut für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften in Moskau: „Lastwagen brachten nachts Lebensmittel, militärische Ausrüstung und Material in die Stadt. Dann ging es über den  zugefrorenen See zurück, mit Verwundeten und vor allen Dingen mit Kindern. Die Fahrer wussten oft nicht, welche Richtung eingeschlagen wurde. Sie sahen vor sich nur die Rücklichter. Und manchmal wurde das Licht ganz ausgeschaltet - wegen der deutschen Flugzeuge. Alle fuhren mit offenen Türen, offenen Fenstern. Nach Gehör. Es konnte passieren, dass ein Lkw mit allen seinen Passagieren im Eis  einbrach und versank. Da gab es keine Hilfe mehr.“

Eineinhalb Millionen Tote

Mehr als eine halbe Millionen Menschen konnten ans andere Ufer gebracht werden, darunter 300 000 Kinder. Nach Recherchen Nikifirows  war aber für viele Kinder damit die Gefahr nicht vorbei, sie kamen in Gebiete, in die plötzlich deutsche Truppen vordrangen. Die schwerste Periode der Belagerung dauerte sechs Monate. Dann im Frühjahr 1942 gab es zeitweise wieder Strom und Heizung, die Brotfabriken arbeiteten an einigen Tagen. Nikiforow: „1943 wurde es wieder sehr gefährlich. Die  Deutschen und Finnen versuchten, die Insel Sucho im Ladogasee  zu erobern. So wollten sie die `Straße des Lebens´ sperren. Ihre Verbündeten, die Italiener, verlegten Kriegsschiffe in den Ladogasee, auch spanische Einheiten waren da. Aber unsere Soldaten haben heldenhaft gekämpft. Sie wussten, um was es ging. So konnten die  Matrosen der Ladoga-Flotte und der Garnison die Insel zurückerobern und halten.“

Am 27. Januar 1944 zogen sich die Deutschen zurück. Der Petersburger Historiker Lew Lurie: „Die Blockade bedeutet für die Leningrader das Gleiche, was der Holocaust für die Juden bedeutet. Während der Blockade  sind mehr Menschen ums Leben gekommen als in allen Städten im Zweiten Weltkrieg weltweit, einschließlich Hamburg, Dresden, Hiroshima, Nagasaki oder Coventry.“

2019: Militärparade statt stillem Gedenken

Während der 9. Mai in Russland mit Militärparaden und großem Aufwand gefeiert wird, finden in St. Petersburg am 27. Januar, dem Tag der Befreiung, eher stille Gedenkveranstaltungen statt. In diesem Jahr war das allerdings anders. Erstmals gab es auf dem großen Dwortsowaja-Platz direkt vor der Eremitage eine Militärparade. In Anwesenheit von Präsident Putin marschierten Soldaten in alten Uniformen, der legendäre T-34-Panzer rollte über den Platz. Aber auch neue Waffen wurden gezeigt, wie das moderne Raketenabwehrsystem S-400 und atomar bestückbare Iscander-Raketen.

Lew Lurie: „Für Petersburg ist die Belagerung Bestandteil des städtischen Mythos. Genauso wie die Tatsache, dass die Stadt von Peter I. gegründet wurde, dass sie als Fenster zu Europa gilt. In dieser europäischen Stadt sind durch die Belagerung über eine Million gestorben, die keine Soldaten waren. Auch dies ist Teil der Stadthistorie.“

Tausende  Zuschauer schauten sich die Militärparade an. Kinder, Enkel und Urenkel derjenigen, die die Blockade  überlebt haben - wie Sergej Danilov, der an diesem Tag seine alte Uniform mit vielen Orden trug: „Wir haben in Russland zwei wichtige Feiertage. Den Tag der Befreiung  von Leningrad, den 27.Januar. Und den  Tag des Sieges über Nazideutschland, den 9. Mai. Beide Tage sind Teil unserer großen  Geschichte. Wir dürfen sie nie vergessen.“

Hermann Krause