Volksbund Logo Desktop Volksbund Logo Mobil
Gräbersuche Mitglied werden Jetzt spenden Spenden

„Viele Propagandalügen sind noch immer im Umlauf“

Interview mit Freya Klier zu ihrem Buch „Dresden 1919 – Die Geburt einer neuen Epoche"

Es war der Beginn einer neuen Zeit: Vor 100 Jahren endete der Erste Weltkrieg, die Revolution fegte die alte Ordnung hinweg, gegen die Attacken von links wie von rechts wurde in Weimar die Republik ausgerufen. Bekannt sind die Straßenszenen aus Berlin und aus München, aber wie sah es anderswo aus? Die bekannte Autorin und Dokumentarfilmerin Freya Klier schildert in ihrem Buch „Dresden 1919 – Die Geburt einer neuen Epoche“ die Ereignisse in ihrer Heimatstadt Dresden. Aus historischen Zeugnissen und Erinnerungen formt sie ein beeindruckendes Panorama aus dem Sachsen der Umbruchzeit. Entlang von Protagonisten wie der Frauenrechtlerin Marie Stritt, der Künstler Otto Dix und Oskar Kokoschka oder dem sächsischen König Friedrich August III. schildert Klier anschaulich und mit vielen Zitaten den umkämpften Weg vom Kaiserreich in die Weimarer Republik. Die heute 69-jährige Freya Klier lebt und arbeitet in Berlin und wird am 21. Juni um 17 Uhr im Rahmen der „Woche der Begegnung“ in der Elisabethkirche in Kassel aus ihrem Buch lesen. Harald John sprach für den Volksbund mit Freya Klier über ihr Buch, ihre Erfahrungen und ihre Beweggründe.

Harald John:  Frau Klier, was macht das Jahr 1919 so spannend?

FREYA KLIER: Es ist das erste Jahr nach dem Weltkrieg, eine Zeit des Umbruchs und des Übergangs von der Kriegs- in die Zivilgesellschaft. Nach der ersten Begeisterung für den Krieg wandelt sich das Bewusstsein und wir erleben nun den Beginn der Weimarer Republik mit all ihren Spannungsverhältnissen.

Harald John: Sie schreiben: „So wie München oder Berlin hat auch Dresden seine eigene Temperatur in dieser Umbruchszeit.“ Was ist das Besondere an Dresden?

FREYA KLIER: In Dresden kommt es zu einer Revolution, die friedlich verläuft. Natürlich gibt es unterschiedliche Temperaturen in den Städten. Aber unmittelbar nach dem Krieg waren in Sachsen die Rechtsradikalen noch müde, die nationalistischen Kräfte erschöpft. Dafür waren die Linksradikalen wach. Die Stadtregierung Dresdens um Bürgermeister Bernhard Blüher bündelte aber alle willigen Kräfte, die das Land aufbauen wollten, darunter auch die Katholiken mit ihrer Zentrumspartei. Radikale Freikorps, wie wir sie aus dem Ruhrgebiet oder Berlin kennen, gab es in Dresden zunächst nicht. Und die Linksradikalen organisierten sich vor allem in Leipzig.

Harald John: Sie schildern bemerkenswerte Szenen. Etwa den Abend des 8. November, an dem Soldaten in den Zirkus Sarrasani einrücken, rote Bänder an den Säbeln, und eindrücklich vor Gewalt warnen.

FREYA KLIER: Der Zirkus spielte eine große Rolle in der Stadt. Hier entschied sich unter anderem, dass in Dresden die Revolution friedlich verlief. Eine Tatsache, die viele Menschen nicht kennen.

Harald John: Wir erleben auch einen Kopfschuss. Eine verirrte Gewehrkugel fliegt während der Schießerei im Kapp-Putsch in die Gemäldesammlung des Zwingers und durchschlägt das Bild „Bathseba im Bade“ von Rubens. Der Maler Oskar Kokoschka protestiert gegen diese Unkultur, sein Berliner Kollege George Grosz hält polemisch dagegen: Besser, die Kugeln träfen Galerien als die Häuser der Armen. Es war auch kulturell eine extrem aufgeladene Zeit.

FREYA KLIER: Anhand der Künstler kann ich den Unterschied zwischen Berlin und Dresden aufzeigen. Die  Radikalität kam von der Gruppe um George Grosz, in Berlin entstand diese Hassstimmung, in Dresden ging weniger radikal zu. Als es zu Schießereien vor dem Zwinger kam, forderte Kokoschka, die Leute sollten gefälligst auf den Schießplatz in die Dresdner Heide gehen. Die Reaktionen waren hart, schließlich hat der sensible Maler Deutschland verlassen.

Harald John: Das Jahr 1919 wirkt wie eine Ouvertüre der wilden Zwanziger: Not und Armut auf der einen Seite, ausgelassene Lebensfreude auf der anderen.

FREYA KLIER: Genau das ist ein interessantes Spannungsfeld, über das ich schon 2005 ein Exposé für einen Spielfilm geschrieben habe. Im vergangenen Jahr wollte Dominik Graf den Stoff verfilmen, aber das war dann zu spät für das 100-jährige Jubiläum.

Harald John: Wir kennen Dresden als Residenzstadt unter August dem Starken, später als Ort schlimmster Zerstörung durch die Luftangriffe der Alliierten, heute als Hauptstadt der Pegida-Bewegung: Das Dresden des Jahres 1919 wirkte mitunter harmonisch.

FREYA KLIER: Das Beschauliche gehörte auch in diese Zeit, das sieht man im Umgang der Dresdner mit ihrem König. Friedrich August III. musste im November 1918 abdanken, aber die Sympathie in der Bevölkerung blieb. Die Sozialdemokraten dachten sogar daran, ihn zum ersten Präsidenten des Freistaates Sachsen zu machen, aber das war politisch nicht durchzusetzen. August spielte in der Öffentlichkeit Schach, ging mit seinen Töchtern spazieren und als er 1932 starb, nahmen hunderttausende in Dresden von ihm Abschied. Für die Anekdote, dass er nach der Abdankung gesagt haben soll „Machd doch euren Dregg alleene“ habe ich allerdings keinen Beweis gefunden.

Harald John: Wir erleben in Ihrem Buch auch, wie Marie Stritt und andere Mitstreiterinnen engagiert das Frauenwahlrecht erkämpfen.

FREYA KLIER:  Marie Stritt ist eine bislang weitgehend unbekannte Frau, denn in der Geschichtsschreibung der DDR wurde stets Clara Zetkin nach vorne geschrieben und wurde zur Vorkämpferin des Frauenwahlrechtes aufgebaut. Eine Geschichtsverfälschung, die bis heute übernommen wird. Man muss wissen, dass die Idee eines besonderen  Frauentags aus Amerika kommt. Marie Stritts Mann war Tenor an der New Yorker Met, dadurch hatte sie Kontakt zu den amerikanischen Frauen. Eine bürgerliche Frau wie sie, übrigens eine Schauspielerin aus Siebenbürgen, durfte in der kommunistischen Propaganda nicht vorkommen.

Harald John: Sie haben aufwändig in Bibliotheken und Archiven recherchiert: Was war für Sie die größte Überraschung?

FREYA KLIER: Eines der erschütterndsten Kapitel ist für mich die Wahrheit über die Ermordung des SPD-Politikers Gustav Neuring. Am 8. Mai 1919 wurde seine Leiche bei Coswig angeschwemmt, sein Schädel war vollkommen zertrümmert. Es zeigte sich, dass man ihn erst misshandelt, dann in die Elbe geworfen und mit Kopfschüssen getötet hatte. Im anschließenden Prozess stellte sich heraus, dass Kommunisten die Anstifter für seine Ermordung waren. Eigentlich wollten sie den Ministerpräsidenten Dr. Georg Gradnauer töten, aber dann konzentrierten sie sich auf Gustav Neuring. Die DDR-Geschichtsschreibung hat stets behauptet, dass Rechtsradikale hinter dem Attentat steckten. Erst durch mein intensives Studium der Prozessakten im Hauptstaatsarchiv habe ich die Wahrheit herausgefunden.

Harald John: Sie schreiben, die Vergangenheit rage ins Heute hinein. Worin besteht die Aktualität für uns heute?

FREYA KLIER: Die Beispiele Neuring und Stritt zeigt, dass wir alle angeblich historisch verbrieften Vorgänge auf ihren Wahrheitsgehalt hin abklopfen müssen. Das ist auch 30 Jahre nach dem Mauerfall nötig, denn viele Propagandalügen sind noch immer im Umlauf.

Harald John: 1919 ist auch das Gründungsjahr des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Wo sehen Sie die aktuellen Aufgaben des Volksbundes?

FREYA KLIER: Dazu erzähle ich eine kurze Geschichte aus den Dreharbeiten zu meinem ersten Dokumentarfilm „Verschleppt ans Ende der Welt“, den ich 1993 in Sibirien gedreht habe und in dem es um die Schicksale verschleppter deutscher Zivilisten 1945 in russische Gefangenenlager geht. In Sibirien wurden die meisten Kriegsgefangenen und Zivilinternierte in Massengräber geschüttet oder in Sümpfe geworfen. Mir ist seitdem auch die Würde jedes einzelnen toten Menschen wichtig.

Harald John: Sie sprechen im Untertitel ihres Buches Dresden 1919 von der „Geburt einer neuen Epoche“. Stehen wir 100 Jahre später wieder vor etwas epochal Neuem?

FREYA KLIER: Nein, nicht in diesem Maß. Das Jahr 1919 markiert den Beginn der parlamentarischen Demokratie. Und was Politiker der Weimarer Zeit wie Gustav Stresemann initiiert haben – von der Aussöhnung mit Frankreich bis zum wirtschaftlichen Aufschwung – bleibt einzigartig.

Harald John: Frau Klier, verraten Sie uns Ihr nächstes Projekt.

FREYA KLIER: Mein neuestes Buch heißt „Und wo warst Du?“. Es geht um 30 Jahre Mauerfall, dabei kommen die unterschiedlichsten Autoren aus Ost und West zu Wort. Jede dieser 23 Geschichten ist spannend.

————————-

Freya Klier, geb. 1950 in Dresden. Autorin, Schauspielerin, Theaterregisseurin, Dokumentarfilmerin, Bürgerrechtlerin. 1980 war sie Mitbegründerin der DDR-Friedensbewegung, 1968 erstmalige, 1988 erneute Verhaftung und Ausbürgerung. Ausge-zeichnet als „Botschafterin für Demokratie und Toleranz“ mit der „Sächsischen Verfassungsmedaille für besonderes demokratisches Engagement in Schulen, in Literatur und Kunst“ (2007), den Verdienstorden des Landes Berlin (1995) und des Freistaates Sachsen (2017), dem Bundesverdienstkreuz (2012) und dem „Franz-Werfel-Menschenrechtspreis“ (2016). Mitglied der Konrad-Adenauer-Stiftung.

21. Juni 2019, 17 Uhr, Elisabethkirche Kassel: Freya Klier liest aus ihrem Buch „Dresden 1919 – Die Geburt einer neuen Epoche (Herder)