Regina Scheer bei der Lesung in der Kapelle der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin. (© Lukas Schramm)
Die Erinnerung ist stärker als der Tod
Der Mythos des Machandelbaums und was der Volksbund damit zu tun hat – Lesung und Gespräch mit der Autorin Regina Scheer
Aus ihrem preisgekrönten Roman „Machandel“ las Regina Scheer im Rahmen der Kapellengespräche, die der Volksbund und die Gemeinde der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche gemeinsam veranstalteten. Eine glückliche Fügung, so der Gastgeber, Pfarrer Martin Germer, dass der Volksbund diese Autorin eingeladen habe, denn dies hätte auch die Gemeinde schon lange gewünscht.
Warum sollte es gerade dieser Roman sein, der von den Anfängen und dem Ende der DDR erzählt? „Als Kirche, die im Westen Berlins steht“, so erklärte er, „ist es uns wichtig, den Blick nach Osten zu richten“. Matteo Schürenberg, Referatsleiter Erinnerungskultur und Netzwerkarbeit, erklärte den Bezug zum Volksbund: Der Roman Machandel weite den Blick. So verschieden die Schicksale seien, so klar sei die Botschaft: Wir können unserer Vergangenheit nicht entrinnen. An der hybriden Veranstaltung nahmen 30 Personen vor Ort teil, die Lesung wurde gestreamt.
Die Autorin im Gespräch
Im Vorfeld hatte Diane Tempel-Bornett mit Regina Scheer über den Mythos des Machandelbaums gesprochen und was der Volksbund damit zu tun hat – über Helden, Opfer und Erinnerung und die Grauschattierungen der Geschichte:
Das Märchen vom Machandelbaum ist so düster wie faszinierend. Die Geschichte, dass ein liebender Mensch – in diesem Märchen die Schwester – die Knochen ihres ermordeten Bruders sammelt, damit er in übertragenem Sinne auferstehen kann und seine Stimme wiederfindet, erinnert an einen Kernauftrag des Volksbundes. Noch immer suchen und finden wir die Toten der Kriege und versuchen, sie zu identifizieren. Wir können ihnen nicht das Leben zurückgeben, nicht mal als Vogel wie im Märchen, aber wir versuchen, ihnen Namen und Identität wiederzugeben – und den Angehörigen Gewissheit über ihr Schicksal. Frau Scheer, wann sind Sie diesem Märchen begegnet und welche Bedeutung hat es für Sie?
Ich habe das Märchen in der Fassung der Brüder Grimm schon als Kind gelesen. Natürlich habe ich damals noch nicht alles verstanden. Heute weiß ich, dass es diese Geschichte in vielen Kulturen, Sprachen und Mundarten gibt. Brentano hatte dieses Märchen von seiner schwäbischen Kinderfrau gehört. Es ist nicht immer ein Machandel, ein Wacholderbaum, unter dem die Knochen begraben werden, manchmal ist es auch eine Linde, eine Eiche, eine Birke... Aber die Geschichte bleibt die gleiche.
Und die Faszination dabei?
Es ist kein Kindermärchen, sondern eine Geschichte voller Geheimnisse, es ist ein Menschheitsmythos. Es geht um das Vergessen oder eben Nichtvergessen. Die Liebe überwindet den Tod. Denken Sie an Antigone.
Die Erzählerin Clara wundert sich über die Gedenkzeichen und Kriegsgräber auf einem Brandenburgischen Friedhof. Erst sind es die Opfer des Todesmarsches, KZ-Insassen, Träger des Roten Winkels, die in der DDR als Vorreiter des Antifaschismus definiert werden. Die deutschen Soldaten haben keine Grabzeichen. Einige Jahre nach der Wende haben die toten Soldaten eine gepflegte Gedenkstätte, die Opfer des Faschismus werden allerdings gemeinsam mit ihnen als „Opfer von Krieg und Gewalt“ genannt. Clara stört sich daran. Macht der Tod die Menschen nicht gleich? Oder verwischt er Schuld und Unschuld?
Das ist eine Diskussion, über die es einen Dissens gibt. Ich habe als Historikerin in Brandenburg zu Gedenkstätten recherchiert. Dabei habe ich einen Bestatter, einen Umbetter des Volksbundes, kennengelernt. Wenn er die Überreste eines Menschen ans Licht brachte, hielt er inne und betete für ihn. Das forderte er auch von seinen Mitarbeitern. Ein Mensch bleibt ein Mensch. Auch die Gebeine.
Darüber sind wir uns einig. Die Würde des Menschen überdauert den Tod. Aber was ist falsch an der Formulierung „Opfer von Krieg und Gewalt“ – sind das nicht alle Toten auf Kriegsgräberstätten?
Ich habe oft erlebt – gerade in Brandenburg –, dass bemühte Pfarrer in bester Absicht auf den Gräbern Kreuze gesetzt haben. Aber für Angehörige jüdischer Opfer ist das eine Zumutung. Und die Opfer der Todesmärsche mit deutschen Soldaten, die möglicherweise ihre Bewacher waren, „als Opfer von Krieg und Gewalt“ gleichzusetzen, empfinde ich als Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Geschichte. Trotzdem bin ich mir bewusst, dass keine Zuschreibung die Differenziertheit der Menschenleben erfasst. Manche SS-Männer waren fanatische Nazis, andere waren als 17-Jährige gegen ihren Willen eingezogen worden. Bemerkenswert finde ich den Text auf einem deutschen Soldatengrab in Brieskow-Finkenheerd: „Sie lebten um die Wahrheit betrogen. Sie starben um ihr Leben betrogen.“
Die Hauptperson in Machandel, Clara, begreift während der Totenrede für ihre Mutter, dass sie sie nicht wirklich gekannt hat. Ist das symbolisch zu verstehen, dass die Nachgeborenen die (Kriegs)Geschichte(n) ihrer Eltern und Großeltern nicht kennen?
In diesem Fall ist das konkret. Als Journalistin habe ich lebensgeschichtliche Interviews gemacht. Dabei habe ich häufig von meinen Gesprächspartnerinnen mehr erfahren als ihre eigenen Kinder von ihnen wissen. Clara erfuhr, dass die Rolle des Vaters als ehemaliger KZ-Häftling in der DDR eine andere war als die der Mutter, die zu den heimatvertriebenen Flüchtlingen gehörte. Das Leid des Vaters war anerkannt, flößte Respekt ein, dass der Mutter wurde lange Zeit eher verschwiegen. Menschen, die ihre Heimat im Osten vermissten, mussten befürchten, dass man ihnen einen gewissen Revanchismus unterstellte, in Westdeutschland war die Öffentlichkeitsarbeit der Heimatvertrieben mit Gebietsansprüchen verbunden. In der DDR sollte man nach vorne, in die Zukunft blicken.
Der Schmerz um das Verlorene, die Erfahrungen der Flüchtlinge, ihre Trauer blieben im Privaten. In Brandenburg gab es ganze Dörfer, in denen das zu spüren war. Meine Großmutter ist auch aus Ostpreußen gekommen. Sie war auf dem Dorf sehr beliebt und als sie 1974 starb, sagte auf ihrer Beerdigung jemand zu mir: „Sonst kommen nicht so viele auf die Beerdigung von Zugezogenen“. Da wurde also noch 30 Jahre später zwischen Zugezogenen und Alteingesessenen unterschieden. Erst in den 1980ern war die Nachkriegszeit vorbei – dann konnte eine neue Generation das Thema der Flucht aufgreifen. 1985 erschien der Roman „Wir Flüchtlingskinder“ von Ursula Höntsch.
Auf ihre Fragen erhält Clara einmal die Antwort: „Wir (Norddeutschen) sprechen nicht so viel. Man sieht doch alles.“ Ist das so? Sind wir Nachgeborenen blind für die Spuren der Geschichte? Oder wollen wir gar nicht sehen?
Das glaube ich nicht und weiß auch nicht, ob man das an den Nachgeborenen festmachen kann. Hier ging es wirklich um die etwas wortkargeren Menschen in Norddeutschland. Man spricht so viel von den Unterschieden zwischen Ost und West, aber es gibt auch bestimmte Mentalitätsunterschiede zwischen einem Bayern und einem Menschen aus Schleswig-Holstein, zwischen einem Schwaben und einem Mecklenburger. Und die Mecklenburger sind eben eher wortkarg.
Mich hat die Geschichte von Marlene sehr berührt, die vom Aufseher Stüwe vergewaltigt und dann als angeblich psychisch Kranke 1943 eingewiesen, zwangssterilisiert und schließlich als Opfer des „Euthanasieprogramms“ ermordet wird. Steht sie symbolisch für die Hilflosigkeit von Frauen in einer Welt männlicher Gewalt? Nicht nur körperlicher, sondern auch struktureller Gewalt?
Marlene steht als Frau, als Kind einer „Polakin“ und als Waise am Rande der Dorfgesellschaft. Sie ist ganz allein. Ihre Geschichte ist authentisch, ich habe sie recherchiert. Marlene wurde nicht einmal als Opfer der T 4-Aktion getötet, sondern als angeblich „Asoziale“ angezeigt , routinemäßig sterilisiert und wahrscheinlich als „überflüssige Esserin“ getötet, wozu bei ihrem Ernährungszustand nur ein paar Tabletten nötig waren. Sie wurde ein Opfer von Gleichgültigkeit und Inhumanität. Nach Auffassung des medizinischen Personals, dem sie ausgeliefert war, galt ihr Leben nichts, zumal Krieg war.
Die Euthanasie war an deutschen Krankenhäusern in den letzten Kriegsjahren nichts Besonderes, sie wurde direkt und indirekt alltäglich ausgeübt. Und nach 1945 wurde dieses Kapitel verdrängt. Erst seit den 1980er, 90er Jahren wurde der Öffentlichkeit durch Forschungen Einzelner das ganze Ausmaß bewusst und vielerorts noch immer abgewehrt. Ich denke an die Kinderkliniken in Jena, in Ueckermünde….
Sie beschreiben in einem Artikel verschiedene Formen der Trauer. Wenn Fragen offen bleiben, deren Antworten für die Hinterbliebenen wichtig wären, dann vergiftet sie und lässt keinen Abschied zu. Auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion sind noch immer über eineinhalb Millionen deutsche Soldaten des Zweiten Weltkrieges vermisst. Ihre Angehörigen konnten nicht Abschied nehmen. Wie können sie ohne Bitterkeit leben, ohne Antworten?
Diese Angehörigen sind inzwischen selbst alt. Man kann ihnen keinen Rat geben. Man kann den Menschen, deren Lieben so sinnlos gestorben sind, nur wünschen, dass sie trotz der Trauer die Schönheit des Lebens fühlen können. Wenn ich jetzt die Krisen und Kriege sehe – und gerade die Kinder, die dies erleiden müssen, dann denke ich: Wieder werden ganze Menschenleben durch Traumata beschädigt. Und womöglich werden die traumatischen Erfahrungen wieder an nächste Generationen weitergegeben.
Frau Scheer, diese Lesung findet in der Reihe „Täter, Opfer, Helden“ statt. Wer in Ihrem Buch ist Täterin, wer Opfer und wer Heldin?
Ich halte nicht viel von diesen Begriffen. Kein Mensch ist nur ein Täter. Und er wird auch nicht als Täter geboren. Die Aufseherinnen des KZ Ravensbrück – sie kamen aus bildungsfernen Schichten, sie waren als Frauen unterdrückt, kamen über den Arbeitsdienst zu ihrer Funktion oder waren froh, einen Broterwerb gefunden zu haben. Manche nutzten ihre neu erhaltene Macht auf grausame Weise aus, manche versuchten, christliche oder einfach menschliche Werte auch in dieser Rolle zu leben.
Es geht darum, wie Menschen ihre Handlungsspielräume nutzen, auch wenn diese klein sind. Was ist ein Held? Für mich ist jemand ein Held, der ein anderes Leben rettet, ein Gerechter. Aber ein Held ist man nicht, weil man mit Orden geschmückt aus einer Schlacht kommt. Vielleicht ist der sogar ein Opfer. Es gibt nicht nur schwarz und weiß. Wichtig sind die Schattierungen der Grautöne dazwischen.
Die Lesung ist bis zum 23. August auf Facebook zu sehen: https://fb.me/e/1GMNjcWE