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„Geschichte am Leben halten“ – junge Schwedin spricht am Volkstrauertag

Lovisa Widenmeyer über ihre deutsch-schwedische Familie – Großmutter kam 1945 als Kind mit den „Weißen Bussen“ des Roten Kreuzes von Deutschland nach Schweden

Die Urgroßmutter Schwedin, der Urgroßvater Deutscher. Sie Konzertpianistin, er Arzt. Ein Krieg, der die Familie trennt. – Die 21-jährige Lovisa Widenmeyer begibt sich auf die Spuren ihrer Familie und betrachtet sie im Kontext der Geschichte. Auf Einladung des Volksbundes wird sie am 19. November bei der Zentralen Gedenkstunde im Deutschen Bundestag eine Rede halten.

 

Lovisa, könnten Sie sich kurz vorstellen? Wie kamen Sie mit dem Volksbund in Kontakt?

Seit fast einem Jahr studiere ich in Uppsala Medizin. Das ist in der Nähe von Stockholm, wo meine Oma nach dem Krieg lebte, als sie von Deutschland nach Schweden kam. Ursprünglich stamme ich aus Malmö in Südschweden.

Schon früh habe ich mich für Politik und Gesellschaft interessiert. Als Teenager habe ich angefangen, mich für die Sozialdemokratische Partei zu engagieren. Dort habe ich politische Theorien kennengelernt und erfahren, wie politische Systeme funktionieren. Das war sehr spannend. 

Als ich einmal meine Familie in Malmö besuchte, traf ich eine Studentin, die vorübergehend bei meiner Mutter lebte. Sie hieß Sarah, kam aus Spanien und war eine PEACE LINE Alumna. Sarah hat mir das Projekt vorgestellt und gesagt: „Da solltest Du wirklich mitmachen!“ Daraufhin habe ich mich direkt beworben.

 

Sie sind 2022 auf der gelben PEACE LINE Route über den Balkan gereist. Welche Erwartungen hatten Sie?

Zu der Zeit lebte ich in einer kleinen Stadt in der Nähe von Marseille. Von dort nahm ich einen Bus nach Bosnien. Ich war sehr aufgeregt, auf diese Weise nach Sarajevo zu reisen, wo die Gelbe Route begann. Schon allein das war ein Abenteuer. Die Fahrt hat ungefähr 36 Stunden gedauert. Ich war fasziniert und absolut begeistert von der sich verändernden Landschaft. So hat schon die Anreise meine Erwartungen für die zweiwöchige Tour definiert: Ich wollte mit eigenen Augen die Vielfalt Europas sehen, neue Leute kennenlernen sowie verschiedene Länder und ihre Geschichte besser verstehen.  
 

Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Es gab mehrere Momente auf dieser Reise, die ich sicher niemals vergessen werde. Zum Beispiel das Hotel, in dem wir in Sarajewo übernachtet haben. Es war 1984 ursprünglich für die Journalisten der Olympischen Winterspielen gebaut worden. Um auf die andere Seite der Stadt zu kommen, musste man den Platz vor dem Hotel überqueren.  

Aber während des Krieges in den 1990er Jahren gab es Scharfschützen, die dort auf Menschen zielten. Mit unserer PEACE LINE Gruppe hörten wir von dieser Geschichte und davon, was in der Stadt passiert war. Wir sahen Bilder, auf denen die Leute genau dieselben Turnschuhe und Kleidung trugen wie wir. Da spürten wir sofort eine Verbindung. Wir waren genau an derselben Stelle, am selben Ort. Das war ein heftiges Erlebnis.

Ich denke aber auch an die Diskussionen, die wir in der Reisegruppe hatten. Es war bereichernd, die verschiedenen Perspektiven kennenzulernen. Wir waren im selben Alter und uns auf vielerlei Weise ähnlich, hatten aber andere Hintergründe, besonders wenn es um Nationalität und Kultur ging. Manche Dinge haben wir komplett anders gesehen. Das hat mich beeindruckt und war sehr wertvoll für mich. 

 

Was halten Sie von dem Ansatz des Volksbundes, aus der Vergangenheit zu lernen, um eine bessere Zukunft zu schaffen?

Das Konzept ist großartig. Ich denke es funktioniert. PEACE LINE hat mein Leben auf vielfältige Weise verändert. Ich denke, das gilt auch für viele andere Teilnehmer. Aber: Wie erreichen wir die Leute, die am dringendsten diesen Perspektivwechsel benötigen? 

Wir haben in Schweden momentan einen Rechtsruck. Nach den letzten Wahlen wurde Schweden zu einem der konservativsten Länder Europas, was neu für uns ist. Wir waren lange Zeit stolz darauf, ein sehr fortschrittliches Land zu sein, das ein festes soziales Netz hat. Aber jetzt haben sich die Dinge geändert. Wir werden immer konservativer. 

Ich hätte gerne, dass junge Leute, die diese rechten Überzeugungen teilen, die Möglichkeit haben, das zu erleben, was ich durch PEACE LINE erlebt habe: zu reisen und europäische Geschichte kennenzulernen. Ich denke, das würde etwas bewirken und uns näher an die Absicht von PEACE LINE bringen. 

Im Spätherbst 1945 hat Ihre Großmutter mit den sogenannten „Weißen Bussen“ Deutschland verlassen können und ist in das Heimatland ihrer Mutter, nach Schweden gekommen. Würden Sie uns etwas über Ihre Familiengeschichte erzählen?

Meine Großmutter erzählte, dass die „Weißen Busse“ von Graf Folke Bernadotte organisiert wurden. Er war ein Mitglied der königlichen Familie, die ja auch Kronprinzessin Victorias Familie ist. Da schließt sich der Kreis. Denn Victoria wird beim diesjährigen Volkstrauertag anwesend sein und eine Rede halten. Dank Folke Bernadotte wurden schwedische, dänische und norwegische Gefangene gegen Ende des Zweiten Weltkrieges zurück nach Schweden gebracht. Er verhandelte das mit den Nationalsozialisten. 

Im Sommer 1945 bekam meine Urgroßmutter ein überraschendes Angebot. Ein Schwede klopfte bei ihr an und fragte: „Möchten Sie mit unseren ‘Weißen Bussen’ zurück nach Schweden fahren?“ Sie dachte an ihre Kinder und nahm schließlich an.

Meine Oma war vier Jahre alt. Weil sie so klein war, erinnert sie sich aber nur noch an weniges. Da war vor allem der Hunger. Wenn sie abends ins Bett ging, war sie immer sehr hungrig. Ein anderer Aspekt war die Sprache. Meine Urgroßmutter hatte mit ihren Töchtern immer Deutsch gesprochen. Aber als sie schließlich die Grenze nach Schweden überquerten, durften sie nur noch Schwedisch sprechen. Deutsch war ein Tabu. So hat meine Großmutter ihre Sprache verloren, die sie bis zu diesem Moment gesprochen hatte.

Meine Urgroßmutter war Konzertpianistin. Als sie in Schweden ankam, musste sie sich allein um ihre beiden Töchter kümmern und sie ernähren. Deshalb begann sie, als Sekretärin zu arbeiten. Während dieser Zeit war mein Urgroßvater drei Jahre in französischer Kriegsgefangenschaft. Zwar überlebte er das Lager, kam aber als gebrochener Mann zurück.

Als mein Urgroßvater aus der Gefangenschaft kam, durfte er für zwei Monate nach Schweden fahren, um sich von seiner Gelbsucht zu erholen und seine Familie zu besuchen. Er hatte seine Frau und seine Kinder jahrelang nicht gesehen. Meine Großmutter konnte gar kein Deutsch mehr sprechen. Sie liebte und bewunderte ihren Vater, aber es war schwer für sie, mit ihrem zu kommunizieren. Mein Urgroßvater musste schließlich nach Deutschland zurückkehren, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Was die ganz Familie aushalten und durchstehen mussten, kann ich mir kaum vorstellen: die Trennung, der Hunger, der Neuanfang in einem anderen Land und nicht zuletzt die Angst.

 

Hat Ihre Großmutter über ihre Beziehung zu Deutschland gesprochen?

Meine Großmutter begann, in der Oberschule wieder Deutsch zu lernen, und wurde Übersetzerin. Das ist sie immer noch. Momentan arbeitet sie an den Bach-Kantaten.

Mein Urgroßvater war ebenfalls sehr sprachbegabt. Als er in französischer Kriegsgefangenschaft war, war er eine Art Oberarzt im Lager und betreute ein medizinisches Team. Während dieser Zeit wurden alle Kriegsgefangenen sehr schlecht behandelt. Also schrieb er an das Rote Kreuz und berichtete von den Haftbedingungen – auf Französisch. Als die Lagerleitung das erfuhr, wurde er mit Isolationshaft und stundenlangem Stehen bestraft. 

Ich habe von vielen Situationen gehört, in denen mein Urgroßvater Widerstand geleistet und aufbegehrt hat. Er hat sich für die Menschen um ihn herum eingesetzt und seine Sprach- und Medizinkenntnisse benutzt, um etwas an dieser schrecklichen Situation zu verändern.

Welche Rolle spielen Ihre deutschen Wurzeln in Ihrem Leben? Sprechen Sie Deutsch?

Mein deutsches Erbe bedeutet mir sehr viel. Ich möchte auch Deutsch lernen. Meine Mutter spricht ebenfalls Deutsch, nicht auf dem Niveau meiner Großmutter, aber sie kommt damit zurecht. Genauso ist es auch bei ihren vier Geschwistern. Ich möchte nicht die Generation sein, in der die Sprache verloren geht.

Ich möchte nach Deutschland gehen und die Sprache lernen, auch um sie lesen zu können. Es gibt zwei Bücher über Illenau, die Heilanstalt in Baden-Württemberg, in der mein Urgroßvater arbeitete und natürlich auch seine wissenschaftlichen Arbeiten und Publikationen. Ich wäre gern in der Lage, das alles zu lesen, um die Geschichte am Leben zu halten.
 

Wenn Sie eine Botschaft zum Volkstrauertag übermitteln könnten, wie würde sie lauten?

Besonders interessant finde ich, wenn ich Dinge, die ich über meine Familiengeschichte lerne, mit meinen eigenen heutigen Erfahrungen in Verbindung bringen kann. Ich nenne ein Beispiel: Als meine Großmutter nach Schweden kam, durfte sie kein Deutsch sprechen. Als ich im Gymnasium war und Mitschüler im Klassenzimmer Arabisch sprachen, sagte der Lehrer: „Nein, wir sprechen hier nur Schwedisch – auch untereinander! Hört auf Arabisch zu sprechen!“

Diese Haltung! Das ist eine Situation, zu der ich eine Verbindung spüre. Ich weiß, was es mit meiner Großmutter gemacht hat, als sie ihre Muttersprache vergessen musste. Was macht das mit den Menschen, wenn sie gezwungen werden, einen großen Teil der eigenen Kultur aufzugeben? Ich hoffe, dass die Menschen heute die Vergangenheit zu ihren eigenen Erfahrungen in Bezug setzen können. Es gibt so viele Ähnlichkeiten! Deshalb ist es so wertvoll und notwendig, mehr über die Geschichte zu erfahren.

 

Welche Pläne haben Sie für die Zukunft?

Natürlich möchte ich etwas mit Medizin machen, aber auch mit der Gesellschaft als Ganzes. Gerne würde ich mich für eine gute medizinische Versorgung einsetzen und diese besser zugänglich zu machen. Das kann auf vielerlei Weise geschehen – national oder international. Aber ich denke, dass eine gute Gesundheitsversorgung ein Menschenrecht ist.  Es muss nicht gleich eine ganze Revolution sein. Auch im Kleinen kann man die Welt besser machen. Ich hoffe, dass ich auf irgendeine Weise dazu beitragen kann.

 

Liebe Lovisa, wir danken Ihnen für dieses Gespräch und wünschen Ihnen für Ihre Zukunft alles Gute!

 

Live aus dem Bundestag

Auch in diesem Jahr überträgt die ARD wieder live aus dem Bundestag: Die Zentrale Gedenkstunde des Volkstrauertages am Sonntag, 19. November 2023, beginnt um 13.30 Uhr. Mehr dazu lesen Sie hier: Volkstrauertag im Bundestag: Zusammenhalt in Europa wird Thema sein.

Materialien und Publikationen zum Volkstrauertag 2023 – auch zur Vorbereitung von Veranstaltungen – finden Sie im Gedenkportal.