Um die „Mär vom schnellen Tod“ deutscher Soldaten in den beiden Weltkriegen geht es bei einer Volksbund-Initiative. Rund 3.500 Einsendungen gingen ein – sogar Koffer mit Dokumenten und Gegenständen. (© Dirk Reitz)
„Ich habe die traurige Pflicht, Ihnen mitzuteilen …“
Volksbund-Projekt „Todesbenachrichtigungen“: Dr. Dirk Reitz zum aktuellen Stand – Sammlungsphase abgeschlossen
Der Brief an meine Großmutter ist von flüchtiger Hand zwischen zwei Luftkampfeinsätzen aufs Papier geworfen. „Als Staffelführer Ihres Gatten habe ich die traurige Pflicht, Ihnen mitzuteilen …“ steht dort unter dem Datum 30. September 1944. Jene Zeilen zum Tod meines Großvaters sind Ausgangspunkt des Projekts „Todesbenachrichtigungen“, das der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. 2023 bundesweit gestartet hat. Überschrift: „Die Mär vom schnellen Tod“.
Der Brief von Oberleutnant Gottfried Hengst an meine Großmutter Elsbeth Irle enthält einen detaillierten Gefechtsbericht, in dem der Staffelkapitän den „Fliegertod“ meines Großvaters, des Unteroffiziers Karl Irle, beschreibt. „Ich habe die traurige Pflicht…“ – so ähnlich lauten die einleitenden Sätze fast aller Todesbenachrichtigungen, die militärische Vorgesetzte oder Dienststellen verfassten.
Bewahren und auswerten
Millionenfach gibt es diese Dokumente. Sie befanden sich im Besitz nahezu jeder deutschen Familie, doch schwindet der Bestand durch Todesfälle und Haushaltsauflösungen. Darum hat der Volksbund die Initiative ergriffen, um diese Quellengattung zu sichern und wissenschaftlich zu bearbeiten. Außer den offiziellen Schreiben sind Todesanzeigen in Zeitungen, standesamtliche Todeserklärungen, die Dokumente zur Kriegsopferversorgung und mehr von Interesse.
Die gewaltige, positive Resonanz auf einen ersten Aufruf des Landesverbandes Sachsen 2022 war Grundlage für eine bundesweite Briefaktion im vergangenen Jahr. Rund 3.500 Zusendungen sind daraufhin bis heute eingegangen.
Wehrpässe, Feldpostbriefe
Neben den Todesbenachrichtigungen erhielt der Landesverband zahlreiche weitere wertvolle Dokumente wie Wehrpässe, Feldpostbriefe und ganze Konvolute – teils mit Orden und Ehrenzeichen, Bildern und umfangreichen Korrespondenzen. Sie reichen in vielen Fällen bis in die 1960er Jahre und zeigen, welch tiefe Spuren der Soldatentod in der Gesellschaft und in den Familien hinterließ.
Oft liegt ein ausführliches Anschreiben bei, aus dem hervorgeht, dass der Tod von Ehemännern, Brüdern, Vätern und Großvätern noch heute Familien bewegt. Viele Menschen sind außerdem dankbar dafür, dass sich der Volksbund des Themas angenommen hat.
Trauma prägt auch Kriegsenkel
Aus manchen Brief klingt die Sorge um die Unterlagen, für die sich „ohnehin niemand mehr interessiert“ und die man dem Volksbund überlasse, damit sie nicht „in der Müllverbrennungsanlage“ enden. Auch das zeigt, wie wichtig das Projekt heute ist.
Die Zusendungen – mehr als die Hälfte digital – belegen auch, welche Mühe viele Familien in die Bewahrung solcher Überlieferung investieren. Hochbetagte Ehefrauen und Geschwister der Toten beteiligten sich an dem Projekt ebenso wie Kriegskinder, die die größte Gruppe bilden. Aber auch Jüngere sind dabei, die sich als „Kriegsenkel“ bezeichnen und nach eigenem Bekunden „epigenetisch“ vom Kriegstrauma geprägt sind – transgenerationelle Weitergabe ist das Stichwort.
„Die Mär vom schnellen Tod“
Umfang und Aussagewert der Todesbenachrichtigungen schwanken erheblich. Dabei ist der Entstehungskontext zu berücksichtigen: Es macht einen Unterschied, ob ein Kompaniechef der Infanterie auf dem russischen Kriegsschauplatz bei strengem Frost im Unterstand Dutzende dieser Nachrichten verfassen muss, oder ob bei Luftwaffen- oder Marinedienststellen selbst in angespannten Lagen offensichtlich viel mehr Zeit darauf verwendet werden konnte.
Überschrieben ist das Projekt mit „Die Mär vom schnellen Tod“: Fast nie geht es um eine realistisch-drastische Darstellung des Sterbens. Zumeist ist von „Kopfschuss“ oder „Volltreffer“ die Rede, dem ein schneller, oft „schmerzloser“, Tod gefolgt sei. Welche wiederkehrenden Formeln die Schreiben aufweisen, auf welchen Vorschriften und Weisungen sie basierten und welche mentalen Schranken sich die Schreiber auferlegten, wird zu erforschen sein.
Was Kameraden berichteten
Fünf Formulierungen spielen eine zentrale Rolle: wichtige Gefechtshandlung, schneller Tod, guter Kamerad, würdiges Begräbnis und das fortwirkende Andenken in der Truppe. Gelegentlich tauchen parallele Schreiben von Kameraden auf, in denen es etwa heißt: „... ich weiß nicht, was Ihnen die Kompanie mitteilte, doch sollten Sie wissen …“.
Indes stehen Kameradenbriefe immer unter dem Vorbehalt der stichprobenweisen Zensur der Feldpost. Rückschlüsse auf Persönlichkeit und politische Haltung der Verfasser erlauben verschiedene Indikatoren – zum Beispiel religiöse Trostformeln von Vorgesetzten oder der Verzicht auf „Heil Hitler!“ am Ende eines Briefes.
Todesurteil ist vollstreckt
In den Briefen finden wir pathetische Elogen auf den Gefallenen und dessen Einsatz für den „Befreiungskampf des deutschen Volkes“ und den „Endsieg“, umfangreiche Gefechtsberichte ebenso wie sehr knappe Tatsachenmitteilungen, Berichte von Militärgeistlichen und Truppenärzten mit Angaben zu medizinischen Befunden. Auch die dürre Nachricht, dass ein vom Kriegsgericht verhängtes Todesurteil vollstreckt wurde, gehört dazu – mit dem Nachsatz: „Todesanzeigen oder Nachrufe in Zeitungen, Zeitschriften u.dgl. sind verboten.“
Bildergeschichte
Gelegentlich liegen den Benachrichtigungen Fotos von der Bestattung mit militärischen Ehren oder einem „Heldenfriedhof” bei. Kurios muten Korrespondenzen an, in denen der Truppenteil die Familie anweist, wie die Kosten für Grabschmuck zu entrichten sind.
Rührend ist die Bildergeschichte eines Vaters an seine Tochter von März 1944, die Angehörige mitgeschickt haben.
Hocheffiziente Bürokratie
Insgesamt entseht das Bild einer hocheffizienten Militärbürokratie, die von der Front bis in die Heimat reichte, wo der Bürgermeister, der NSDAP-Ortsgruppenleiter oder der Pfarrer Überbringer jener letzten Botschaften aus dem Felde waren. Viele der Anschreiben verweisen auf die Momente des Schreckens, wenn der Bürgermeister wieder mit ernster Miene auf der Dorfstraße unterwegs war und – Gott sei Dank – nicht ins eigene Haus trat.
Etwa zehn Prozent aus Erstem Weltkrieg
Die erste statistische Auswertung ergibt ein Bild, das die Mannschaftsstärken der Wehrmachtsteile und deren Verluste prozentual widerspiegelt. Dass die Zahl von Todesbenachrichtigungen in der Endphase des Krieges zwischen Juni 1944 und Mai 1945 stieg, als mehr deutsche Soldaten fielen als in den Jahren zuvor, verwundert nicht.
Erwartungsgemäß dominieren Todesbenachrichtigungen des Heeres und Dokumente aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Nur etwa zehn Prozent der Datensätze entfallen auf die Jahre 1914 bis 1918.
Auswertung als Doktorarbeit
Damit ist die Datenerfassung – die erste Etappe des Projekts – abgeschlossen. Nun folgt die wissenschaftliche Auswertung im Rahmen einer Dissertation an der Universität Potsdam. Angesiedelt ist sie am Lehrstuhl für Militärgeschichte von Prof. Dr. Sönke Neitzel.
Abschließend wird die Doktorarbeit publiziert. Welche Schwerpunkte sie aufweisen wird, werden Doktorvater und Doktorand noch festlegen. Das Quellenmaterial bietet eine gute Basis für ein weites Spektrum an Fragestellungen von klassisch militärhistorisch bis zu verwaltungs- oder mentalitätsgeschichtlich. Die Ergebnisse sollen bis 2027 vorliegen.
Spenden sichern Finanzierung
Einen Erfolg hat das Projekt bereits erzielt: Die Dokumente als Teil der materiellen und ideellen Überlieferung der Weltkriege sind gesichert. Über den abschließenden Verbleib der Unterlagen ist noch nicht entschieden. Entweder sie gehen in den Bestand des Volksbunds über oder sie werden dem Bundesarchiv in Berlin übergeben. Dort verwahrt die Abteilung Personenbezogene Auskünfte rund 18 Millionen Personalakten der Wehrmacht.
Für die Finanzierung ist der Volksbund einen neuen Weg gegangen: Viele derer, die Material zur Verfügung gestellt haben, haben parallel gespendet – das deckt die Projektkosten. Bei 100.000 bundesweit verschickten Briefen gingen rund 90.000 Euro (brutto) ein. Damit bezahlt der Volksbund die Honorare von vier studentischen Hilfskräften und später die Druckkosten der Veröffentlichung. Sollte Geld übrig sein, kommt es anderen Feldern der Volksbund-Arbeit zugute.
Lehramtsstudenten unterstützen
Die vier wissenschaftlichen Hilfskräfte erfassen und dokumentieren die rund 3.500 Zusendungen – ein Absolvent und drei Studenten der Universitäten Potsdam und Dresden, darunter die beiden Lehramtsstudenten des Fachs Geschichte, Janne Epphardt und Jason Szedlak. „Seit ich im September 2022 das erste Mal die Todesbenachrichtigungen in die Hand bekam, war ich fasziniert und bedrückt zugleich. Als Geschichtsstudent ist es eine Freude, mit originalen und mir lange Zeit unbekannten Quellen zu arbeiten“, sagt Janne Epphardt.
Jason Szedlak ergänzt: „Vor Beginn der Arbeit an diesem Projekt wusste ich nicht, was mich bei den verschiedenen Todesbenachrichtigungen erwartet. Ich bin beeindruckt, welche Vielfalt sie aufweisen können, aber auch erschüttert, wie schlimm die Nachrichten für die Angehörigen gewesen sein müssen. Ich finde es auch erschreckend, dass viele Menschen diese wichtigen historischen Dokumente nicht mehr zu schätzen wissen.“
Hilfe aus Kassel und Berlin
Das Projekt „Die Mär vom schnellen Tod“ hat auch andernorts Unterstützer: Mein Dank gilt Anette Meiburg vom Bundesarchiv, die mir in Berlin wertvolle Anregungen für die Aufbereitung des Datenbestands gab und mir die militärische Biographie meines Großvaters zugänglich machte. Ebenfalls einbezogen sind das Volksbund-Archiv in Kassel unter der Leitung von Franziska Haarhaus und das Projekt „Kriegsbiographien“ mit Flemming Menges, das ebenfalls von dem Datenbestand profitieren wird.
Vor allem bedankt sich der Volksbund sehr für die überwältigende Zahl an Zusendungen und die vertrauensvolle Überlassung des Materials mit Erlaubnis zur weiteren Verwendung. Darüber hinaus erhielten wir zahlreiche Zuschriften, die bisher noch nicht allesamt beantwortet worden sind – dafür bitten wir um Nachsicht.
Wie es weitergeht mit dem Projekt „Die Mär vom schnellen Tod“, werden wir in der Mitgliederzeitschrift FRIEDEN und hier auf der Volksbund-Webseite von Zeit zu Zeit skizzieren.
Text: Dr. Dirk Reitz
Geschäftsführer des Volksbund-Landesverbandes Sachsen (Kontakt)
Zwar ist die Sammlungsphase abgeschlossen, doch können Sie bis Ende März 2024 noch Material per Mail an todesbenachrichtigungen@volksbund.de schicken oder an den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V., Landesverband Sachsen, Postfach 530106, 01291 Dresden