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Autorin aus Saulgau veröffentlicht Zeitzeugenberichte

„Das Schweigen ist nun vorbei“  mit diesem Aufruf in der Schwäbischen Zeitung löste Autorin Conny Scheck eine regelrechte Welle in ihrer Heimatstadt Saulgau in Obeschwaben aus. Für ein Buchprojekt sammelt sie persönliche Erinnerungen, Anekdoten, Texte, Fotos und Briefe von Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges. Was sie antreibt: der versöhnende Schritt – und ihre eigene Familiengeschichte.

„Was passierte während des Krieges in meiner eigenen Heimatstadt und warum weiß ich darüber so wenig?“ Dieser Gedanke ließ Conny Scheck nicht los. „Über den Krieg sprach man wenig, doch die Erlebnisse unserer Eltern hat auch uns, die Nachkriegsgeneration, stark mitgeprägt“, berichtet die 65-Jährige aus eigener Erfahrung. Viele Fragen blieben offen. „Auch deswegen wollte ich unbedingt mehr erfahren über die Geschichten hinter der Geschichte.“

Über die Kriegsgeschehnisse in ihrer heutigen Wahlheimat, im niederländischen Kekerdom bei Nimwegen, hat eine Arbeitsgruppe um Conny Scheck bereits ein Buch mit Zeitzeugenberichten veröffentlicht. „Kekerdom in bange dagen“ (Kekerdom in bangen Zeiten) heißt es. Die Idee, dieses Projekt auch in Saulgau (heute: Bad Saulgau) zu starten, lag mehr oder weniger auf der Hand, doch es steckte noch etwas mehr dahinter: Es ist die Geschichte des Piloten Anton Franz Schmid.   
        

Flugzeugabsturz über Nijemirdum

Es war am Abend des 9. Oktober 1944, als zwei Kampfflugzeuge der deutschen Wehrmacht in der Nähe des kleinen Dorfes Nijemirdum kollidierten und abstürzten. „Het Griene Singel“ hieß das Gebiet in der Provinz Friesland. Die Heinkel 111 waren vermutlich zu einem Kampfeinsatz in England unterwegs und hatten vernichtende Bomben an Bord die V1 waren unter dem linken Flügel montiert. Eine Bombe explodierte in der Luft, die andere zerbrach beim Zusammenstoß in viele Stücke. Beinahe zwei Tonnen Sprengstoff sorgten für eine heftige Detonation, die sämtliche Fensterscheiben und Einmachgläser der umliegenden Bauernhöfe zerspringen ließen. Bei dem Absturz kamen alle zehn Insassen ums Leben, junge Männer im Alter zwischen 19 und 27 Jahren. Einer von ihnen war Anton Franz Schmid, Feldwebel und Pilot.

Nachforschungen

Alle Besatzungsmitglieder wurden namentlich identifiziert. Ihre sterblichen Überreste wurden zunächst in Leeuwaarden beigesetzt und 1958 auf die deutsche Kriegsgräberstätte in Ysselsteyn durch den „Bergings- en Identificatiedienst Koninklijke Landmacht“ (BIDKL) umgebettet. Drei niederländische Hobbyarchäologen wollten mehr über diesen Absturz erfahren, wollten wissen, wer diese jungen Männer waren, die an diesem Tag aus der Luft und aus dem Leben gerissen worden waren. Aus welchen Familien kamen sie? Sie recherchierten nach Angehörigen und stellten unter anderem eine Anfrage an das Saulgauer Stadtarchiv. Warum ausgerechnet dort? – „Anton Schmid wurde am 17. Juni 1919 in Saulgau geboren, er wohnte in der Gutenbergstraße“, erklärt Conny Scheck, „er war der Cousin meiner Mutter Lore Scheck.“   

„Meine Mutter war überrascht, als sie einen Anruf von Mary Gelder aus dem Stadtarchiv erhielt. Auch ich war berührt davon, dass sich zwei Niederländer nach 75 Jahren noch so viel Mühe machten, um auf Spurensuche nach Kampfflugzeugen 'feindlicher' Besatzung zu gehen. Das ist Versöhnung.“ Die Geschichte von Anton ließ Conny Scheck nicht los – schließlich ist sie ein Stück der eigenen, fast vergessenen Familiengeschichte. „So spannte sich der Bogen in die eigene Heimat, zur Saulgauer Stadtgeschichte, über die ich kaum etwas wusste. Und wer könnte besser wissen, was damals passierte, als diejenigen, die es hautnah miterlebt haben?“ Nach einem Telefonat mit der Stadtarchivarin Mary Gelder war der Plan geschmiedet: „Wir befragen Saulgauer Zeitzeugen.“
    

Die „Schatzkiste“

Gesagt, getan. Am 7. Januar 2020 ging der erste Aufruf in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv heraus. „Wir haben Zeitzeugen, die wir kannten, per Brief angeschrieben – teilweise auch ihre Nachkommen angefragt – und mit den Eltern unserer Freunde, von denen wir wussten, dass sie noch leben, gesprochen.“ Anfang Februar folgte dann der Bericht in den Zeitungen. Dieser Aufruf löste eine regelrechte Welle aus. Ein paar Tage später folgte die zweite Welle nach einem Aufruf im „Saulgauer Stadtjournal“.

Mehr als 100 Zeitzeugen wurden angeschrieben, viele wurden inzwischen interviewt oder senden ihr Material ein. Texte, Tagebücher, Feldpostbriefe, Fotos. Mary Gelder vom Stadtarchiv hat eine „Schatzkiste“ angelegt. „Wir nehmen alles an, sowohl analog als auch digital. Alle Geschichten kommen ins Buch“, betont Scheck.

Es sind Geschichten, die nahe gehen: vom Alltag im Saulgauer Konzentrationslager, wo Teile der V2-Rakete produziert wurden, wie etwa die Hülle, die unter strengster Geheimhaltung entstand – Strafgefangene mussten dort unter schlimmen Bedingungen Zwangsarbeit verrichten. Oder die Berichte von Augenzeugen über den „Panzersonntag“ am 22. April 1945, als die Franzosen einmarschierten. Sehr berührt haben Conny Scheck die Kriegserlebnisse eines achtjährigen Jungen, denn es ist die Geschichte ihres Vaters Rolf. Auch ihre Mutter, Lore Scheck, schrieb ihre Erinnerungen auf. Lore und Rolf erzählen von ihrer verlorenen Kindheit in den schweren Jahren und den ersten Begegnungen mit den französischen Alliierten, als wäre es gestern gewesen. Lore erinnert sich natürlich an Anton, ihren Cousin, der nur eine Straße weiter wohnte und heute in Ysselsteyn begraben liegt.

Gedenken an der Absturzstelle

Auf der deutschen Kriegsgräberstätte in Ysselsteyn liegen 32.000 Kriegstote. Der Pilot Anton Schmid wurde hier am 4. September 1958 beigesetzt, ein Kranzgesteck schmückt sein Grab. Conny Scheck hat ihm im Juni 2019, an seinem 100. Geburtstag, einen Strauß Pfingstrosen gebracht – sie war die erste der Familie, die sein Grab nach 75 Jahren besuchen konnte. Antons Geschichte wird nicht vergessen.

Doch was ist mit den Angehörigen der neun anderen Kameraden? „Vielleicht können wir bei der Spurensuche helfen“, sagte Volksbund-Präsident Wolfgang Schneiderhan im Gespräch mit Stadtarchivarin Mary Gelder. Schneiderhan, aufgewachsen in Saulgau, wurde über den Artikel in der Schwäbischen Zeitung auf den Fall aufmerksam. „Vielleicht können wir die Geschichte vervollständigen.“ Wenn das gelingt, wollen die drei niederländischen Spurensucher, die Anton Franz Schmid seine Geschichte „wiedergegeben“ haben, an der Absturzstelle in Nijemirdum den Soldaten eine Kriegsplakette zum Gedenken widmen. Eine kleine Geste, aber ein großer Beitrag zur Versöhnung.

Veröffentlichung für 2022 geplant

Das Saulgauer Buch soll in etwa einem Jahr – vielleicht sogar am 22. April 2022, am Jahrestag des „Panzersonntags“ – veröffentlicht werden. 1945 rückten an diesem Tag die Panzer der Franzosen an, Saulgau wurde befreit. Weitere Veröffentlichungen mit grenzüberschreitenden Erinnerungen sind geplant. Das aber, so Conny Scheck, brauche noch ein bisschen Zeit.  

Text: Simone Schmid