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„Träumen Sie noch vom Krieg?“ – „Ja, jede Nacht“

Volksbund-Workcamp in Brandenburg ermöglicht Begegnungen – Jugendliche im Gespräch mit Zeitzeugen

Sommer ist Workcamp-Saison – erstmals auch im Oderbruch. Junge Europäer zelten hier und suchen Spuren des Krieges in malerischer Natur. Größer könnte der Kontrast zwischen Schönheit und Schrecken kaum sein. Neben dem Austausch mit Kriegsveteranen steht für die Jugendlichen auch Grabpflege auf dem Programm.

 

Wolf-Dietrich Kroll hat Tränen in den Augen, als er von seinen Erlebnissen in der Schlacht an den Seelower Höhen berichtet. Oft holen ihn nachts seine Kriegserlebnisse ein:  Wie er sich als 17-jähriger Fallschirmspringer in einer Stellung im Oderbruch vor dem Trommelfeuer der Roten Armee schützt. Wie er über den Rand des Grabens späht und die Panzer auf sich zurollen sieht. Wie er mit viel Glück dem Granatenhagel knapp entkommt, viele seiner Kameraden jedoch nicht.
 

Bericht aus erster Hand

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workcamps „War and Wilderness“ (Krieg und Wildnis), das vom 3. bis 15. Juli 2023 im Oderbruch nahe der deutsch-polnischen Grenze stattfindet, hängen förmlich an den Lippen des Mannes. Die zwölf jungen Menschen aus Polen, Deutschland und Italien sind in dem Alter, in dem Wolf-Dietrich Kroll in den Krieg musste.

Der 96-Jährige erzählt detailreich von den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges, als er genau dort eingesetzt war, wo heute das Workcamp stattfindet. Dort, wo auch die Soldaten gefallen sind, deren letzte Ruhestätten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer pflegen.

Krieg und Wildnis ist das Motto dieses Workcamps, da es genau diese beiden Aspekte der Oderbruch-Landschaft aufgreift: zunächst einmal die idyllische Flora und Fauna der Flusslandschaft entlang der deutsch-polnischen Grenze, in der Storchennester jedes Dorf zieren. Die Oder mäandert auf verschlungenen Wegen durch Auenwiesen und Schilfgürtel und bietet unzähligen Tier- und Pflanzenarten ein Refugium.
 

Von zauberhaft bis grausam

Die Gruppe lebt nur einen Steinwurf vom Fluss entfernt in einem Zeltdorf, kocht auf einem Lagerfeuer und erkundet die Flusslandschaft auf Rädern und in Kanus. Diese zauberhafte Landschaft inspirierte Theodor Fontane, wie in seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ zu lesen ist:

„Wer hier um die Sommerszeit seines Weges kommt,
wenn die Rapsfelder in Blüte stehen und ihr Gold und ihren Duft
über das Bruchland hinausstreuen, der glaubt sich wie durch Zauberschlag
in ferne Wunderländer versetzt, von denen er als Kind geträumt und gelesen.“

Gleichzeitig verbirgt sich hinter der Idylle eine tragische, gewaltvolle Geschichte. Fast jedes der kleinen Dörfchen beiderseits der Oder hat eine Kriegsgräberstätte, die Wegweiser tauchen überall am Straßenrand auf. Die ehemalige Altstadt von Küstrin (heute Kostrzyn) ist ein Ruinen-Park, in dem Reste von Straßen, Bürgersteigen und Mauern grün überwachsen sind.

Das Gelände des Zeltdorfes „Uferloos“ wurde vor Jahren mehrere Monate lang von Spezialisten komplett umgegraben, die tonnenweise Bomben, Waffen und Kampfmittelreste abtransportierten. Was ist hier geschehen?
 

Unerwartete Entwicklung

Es ist der 31. Januar 1945: Für die Wehrmacht vollkommen überraschend überquert die Rote Armee die Oder bei Kienitz – dort, wo sich heute das Zeltdorf des Workcamps befindet. Ein junges Mädchen berichtet später, dass es sich an diesem Morgen gerade für die Schule fertig gemacht hat, als es am Fenster dunkle Gestalten vorbeihuschen sah – sowjetische Soldaten.

Die Wehrmacht zieht daraufhin alle Kräfte zusammen und verteidigt die Flussauen mit allen, die noch verfügbar sind: Reste von zusammengewürfelten Verbänden, alte Männer, junge Wehrpflichtige – gerade 16 Jahre alt. Zentrum und Höhepunkt der Kämpfe bildet die Schlacht um die Seelower Höhen, die sich wie ein Balkon über die Flussauen erheben und ein beeindruckendes Panorama bieten.
 

Ende mit Schrecken

Im April 1945 ist diese Landschaft von dem Inferno verwüstet: Die Auen sind von der Wehrmacht geflutet, übersät von Kratern und Einschlägen. Jedes Dorf, jedes Gebäude in der etwa 20 Kilometer breiten Niederung zwischen Oder und Höhenzug ist beschädigt oder zerstört.

Die Rote Armee schiebt sich entlang der „Reichsstraße 1“ in Frontalangriffen gegen den Widerstand der Verteidiger voran. Nach einem der heftigsten Artillerie-Angriffe des gesamten Krieges und monatelangen erbitterten Kämpfen mit zehntausenden Toten auf beiden Seiten endet die Schlacht um die Seelower Höhen – nur Tage vor der bedingungslosen Kapitulation und dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa.

 

Sich der Geschichte stellen

Zurück in die Gegenwart: Gemeinsam mit Tobias Voigt und Kerstin Wachsmann vom Verein „Zeitreise Seelower Höhen“ erkunden die Jugendlichen im Rahmen des Volksbund-Workcamps die noch sichtbaren Spuren. Auf einer Tour über die damaligen Schlachtfelder erklärt Tobias Voigt Geschichte am Ort des Geschehens und führt die Gruppe über die Gedenkstätte „Seelower Höhen“, die bereits 1945 von der Roten Armee zusammen mit einer Kriegsgräberstätte errichtet wurde.

Außerdem pflegen die Campteilnehmerinnen und -teilnehmer Kriegsgräber auf dem Friedhof in Niederjesar, wo 226 Tote aus dem Zweiten Weltkrieg bestattet sind.

Text: Vinzenz Kratzer
Kontakt

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... ein gemeinnütziger Verein, der im Auftrag der Bundesregierung in 46 Ländern mehr als 830 Kriegsgräberstätten pflegt und daraus die Mahnung zum Frieden ableitet. Noch immer bergen wir Jahr für Jahr Tausende Tote und unsere Aufgabe ist noch lange nicht erfüllt.

 

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