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„Viele tranken aus dem Fluss des Vergessens“

"Erinnerungskulturen im Gespräch": 80 Jahre nach Kriegsbeginn auf Kreta – Diskussion über Wege der Versöhnung

Vor 80 Jahren griffen deutsche Fallschirm- und Gebirgsjäger die Insel Kreta an. Trotz hoher Verluste blieb sie bis zum Kriegsende von der Wehrmacht besetzt. Die Wunden, die Krieg und Besatzung geschlagen haben, sind heute noch sicht- und spürbar. In der Volksbund-Reihe „Erinnerungskulturen im Gespräch“ fand zum Jahrestag des Angriffs am 20. Mai 1941 eine Diskussion in der Orthodoxen Akademie Kreta statt, die live ins Internet gestreamt wurde.

Vicky Arvelaki war schon 30 Jahre alt, als sie bemerkte, dass an viele Türen der Häuser ihrer kretischen Heimat schwarze Kreuze gemalt sind. Sie erfuhr, dass sie an Menschen erinnern, die in der Zeit der deutschen Besatzung sterben mussten. „Warum habe ich nie etwas darüber erfahren, was auf meiner Insel geschehen ist?“, fragt sich die Dokumentarfilmerin heute.

In ihrem Werk „Flowers Fade Early“ lenkt sie den Blick auf das Dorf Kakopetros, das am 3. Juni 1941 bei einer „Vergeltungsaktion“ von deutschen Truppen niedergebrannt wurde, gefolgt von einem Massaker an der Bevölkerung am 28. August 1944. „Jedes Dorf hat eine Gedenkstätte“, hat Arvelaki beobachtet. „Die Menschen hier blicken zurück. Es fällt ihnen schwer, nach vorne zu schauen.“
 

Traumata des Krieges

Dr. Corinna Kuhr-Korolev wertete dies als wichtigen Hinweis auf die Fragen, warum sich Griechen und Deutsche auch 80 Jahre nach dem Krieg mit Unverständnis begegnen. Die Historikerin vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschungen in Potsdam moderierte die dreisprachig geführte und übersetzte Diskussion. Sie ist auch Kuratorin der neuen Dauerausstellung des Volksbundes auf der Kriegsgräberstätte Maleme. Ihre Gäste fragte sie nach den Traumata des Krieges, nach Fragen des Gedenkens und den unterschiedlichen Erinnerungen an das historische Geschehen. 
 

Mikrokosmos Kreta

Die Historikerin Dr. Anna Maria Droumpouki, die aus Berlin vom Selma-Stern-Zentrum zugeschaltet war, erinnerte an die Debatte um die Ratifizierung des Kriegsgräberabkommens 1962 in Athen. Dort habe Außenminister Evangelos Averoff gesagt, dass Griechenland das einzige Land sei, in dem man für das Problem der Friedhöfe der Feinde von einst noch keine Lösung gefunden habe. Averoff habe betont, dass die überwältigende Mehrheit der Griechen keinerlei Hass mehr gegenüber den Deutschen hege.

Dies sei auf Kreta allerdings sehr kritisch gesehen worden. Die Historikerin wörtlich: „Abgesehen von Hypotheken bei der bilateralen Vergangenheitsaufarbeitung, rivalisiert im Mikrokosmos Kreta eine Vielzahl gespaltener Erinnerungen, die ideologisch-kulturell vermittelt beziehungsweise vererbt werden.“ Dieses konfliktbeladene Klima sei Jahr für Jahr bei der Gedenkzeremonie im Mai auf Kreta noch zu spüren.
 

Der Mythos wirkt nach

Loretana de Libero, Historikerin und aktiv im Bundesvorstand des Volksbundes, unterstrich, dass Erinnern stets sehr vielschichtig sei. „Diese Vielschichtigkeit finden wir auch auf der Kriegsgräberstätte Maleme.“ Die älteste Schicht des Erinnerns reiche bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Weite Teile der Nachkriegsgeneration seien angesichts des moralischen Bankrotts nicht in der Lage gewesen, sich mit der Schuld im Nationalsozialismus auseinanderzusetzen.

Die Analyse der Professorin der Bundeswehr-Führungsakademie der Bundeswehr ist deshalb eindeutig: „Der Mythos Kreta entstand schon 1941/42 und er wirkt weit nach in unsere Zeit.“ Dies belegte die Historikerin mit Beobachtungen, die sie in dieser Woche beim Besuch des Soldatenfriedhofes Maleme machte, auf dem derzeit die neue Dauerausstellung entsteht. Mit Blick auf die 1974 eröffnete Anlage sagte sie: „Baulich gesehen treten die Soldaten dort zum Appell in vier Blöcken an.“ Diese vier Blöcke symbolisierten die vier Angriffspunkte der deutschen Fallschirmjäger am 20. Mai 1941. In der obersten, ersten Reihe der Gräber sei auch ein General begraben – im Umfeld seiner Soldaten.

Loretana de Libero kam zu dem Schluss: „Die Nachkriegsgeneration verdrängte dies, versuchte zu vergessen, was im Krieg geschehen war und was sie selbst getan hatte.“ Und sie bezog sich mit ihren Betrachtungen auf Dr. Alexandros K. Papaderos, den früheren Gründungsdirektor der Orthodoxen Akademie, der als Jugendlicher für den Widerstand Kurierdienste übernommen hatte und mit seiner Familie inhaftiert worden war. Dennoch war er nach dem Krieg einer der entscheidenden Wegbereiter für eine Wiederannäherung auf der Insel und den Bau der deutschen Kriegsgräberstätte Maleme. Mit Blick auf die Dialogbemühungen beider Seiten – unter anderem aus Reihen der Kirchen – und die Verdrängung der Geschichte sagte de Libero mit Rückgriff auf die griechische Mythologie: „Viele Deutsche tranken aus dem Fluss des Vergessens.“

Brückenschlag in die Gegenwart

Wie aber könne nun der Brückenschlag in die Gegenwart gelingen, wollte Moderatorin Corinna Kuhr-Korolev wissen. Dagegen müsse man Aufklärung setzen, so Loretana de Libero. Sie habe die Gräueltaten in der Zeit der deutschen Besetzung Kretas in der Führungsakademie in Hamburg auf die Agenda gesetzt. Ihr Fazit: „Wir haben die Besatzungsherrschaft zum Thema im Seminar gemacht. Die Geschichte war den Offizieren nicht bekannt, so dass sie sehr betroffen waren und somit die Besonderheit der deutsch-griechischen Beziehungen besser verstehen, weil sie um die Vergangenheit wissen.“

Auch der Volksbund habe auf diese Debatten in der Gesellschaft reagiert: In der neuen Dauerausstellung in Maleme, die multiperspektivisch und dreisprachig sein wird, kämen künftig alle zu Wort – „auch die Opfer!“ So könnten Besucherinnen und Besucher deutlich stärker Anteil nehmen am Schicksal der Menschen.

Erfahrungen der Neuseeländer

Bildung und Aufklärung können also Wege sein, einander vertrauensvoll zu begegnen. Michael Havas, Dokumentarfilmer aus Prag, zeigte noch einen dritten Weg auf. Der Neuseeländer mit tschechischen Wurzeln hat sich viel mit den Maori, den Ureinwohnern Neuseelands, beschäftigt. Auch auf Kreta kämpfte 1941 eine Maori-Einheit. Für sie war ihr aufopferungsvoller Kriegseinsatz auch ein Weg zu mehr Anerkennung in der Heimat – entsprechend wichtig sei das gemeinsame Gedenken bis heute auf der weit entfernten Insel.

Havas besuchte Jahrzehnte nach dem Krieg mit Überlebenden Friedhöfe auf der Insel. Die Maori-Veteranen seien deutschen Besuchern dort offen und freundlich begegnet, daraus hätten sich viele vertrauliche Gespräche ergeben. Auch dies sei ein Weg in eine gemeinsame Zukunft.

Mit Dankbarkeit erfüllt

Dirk Backen, Generalsekretär des Volksbundes, sagte, es erfülle ihn „mit Dankbarkeit“, dass schon wenige Jahre nach dem Krieg einzelne Persönlichkeiten auf Kreta den Deutschen mit großzügigen Gesten der Versöhnung begegnet seien. Dies habe den Weg für unser heutiges Miteinander geebnet. Backen erinnerte an die Initiative des Bischofs der Diözese Kissamos und Selino Irenäus, die es dem Volksbund bereits 1960 ermöglicht habe, die sterblichen Überreste tausender deutscher Gefallener aus verstreuten Feldgräbern und provisorischen Gräberanlagen aus ganz Kreta zu bergen und ins Kloster Gonia zu überführen.

Auch der deutsche Botschafter Dr. Ernst Reichel – zugeschaltet aus Athen – betonte den Wert dieser frühen Annäherungsschritte, die zu einer politisch, wirtschaftlich aber auch zwischenmenschlich eng verbundenen Partnerschaft zwischen den Ländern heute und gerade auch auf dieser Insel geführt hätten. Gleichwohl betonte der Diplomat, dass dieses Verhältnis nur im Bewusstsein der ambivalenten Vergangenheit glücken könne.

Dirk Backen weiter: „Für mich ist klar: Die Erinnerung an die gemeinsame Geschichte – insbesondere auch an ihre dunklen Seiten – ist Voraussetzung dafür, dass wir Deutsche und Griechen gemeinsam in einem engen, herzlichen Verhältnis die Zukunft gestalten und uns für das friedliche Zusammenleben und -wirken in einem vereinten Europa einsetzen.“Gemeinsam, herzlich und im Geist der Versöhnung – diese Botschaft ging von der Diskussion in der Orthodoxen Akademie aus. Dem konnte Gerasimos Gekas, Generalsekretär des jüngst gegründeten Deutsch-Griechischen Jugendwerks auf Kreta, nur noch hinzufügen, dass es besonders darauf ankomme, Jugendliche zu ermutigen, sich auf diese Weise mit Geschichte auseinanderzusetzen.
 

Video der Diskussion:

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Eröffnung der Ausstellung verschoben

Mit einem ganz neuen Ausstellungskonzept gibt der Volksbund dem Soldatenfriedhof Maleme fast 50 Jahre nach seiner Eröffnung einen anderen Charakter und ein neues Gesicht. Die Eröffnung war zum Jahrestag der Invasion geplant, musste aber wegen der Pandemie vorerst verschoben werden. Mit Plakat und Flyern auf Deutsch, Griechisch und Englisch weist der Volksbund aktuell auf sein Vorhaben hin. Einen kurzen Überblick über die Kriegsgräberstätte und das Ausstellungsprojekt gab während der Diskussion dieses Video:

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