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Von Heimat, Herkunft, Identität

20 junge Leute suchen in Lommel Antworten – mit dem Volksbund als Gastgeber und Partner

Sie rühren an und rütteln durch. Sie lassen verzweifeln, machen Hoffnung, treiben voran – die Fragen, die bei der internationalen Jugendbegegnung im belgischen Lommel im Mittelpunkt standen: Wer will ich sein? Wo gehöre ich hin? „A place to be“ lautete das Thema für fast zwei Wochen.

Sophie Heinig und Jesper von Borstel hatten es vor Monaten festgelegt. Als Organisatoren, bei ihrem Freiwilligendienst im „Huis Over Grenzen“, der Jugendbegegnungs- und Bildungsstätte (JBS) des Volksbundes. Doch wegen Corona kam alles anders und so erlebten sie ein Jahr später als geplant ihr eigenes Programm als Teilnehmende.

Für 18- bis 28-Jährige war es ausgeschrieben. 20 junge Leute sind gekommen, um sich mit Heimat, Herkunft, Identität auseinander zu setzen. Aus Deutschland, Italien, Rumänien und Geflüchtete aus Eritrea, die jetzt in Belgien leben.
 

Mehr als 39.000 Tote nebenan

Der Volksbund ist damit einer von vier nationalen Partnern und gleichzeitig Gastgeber in der JBS. Gleich nebenan: die größte deutsche Kriegsgräberstätte des Zweiten Weltkrieges in Westeuropa mit mehr als 39.000 Toten. Dass diese Toten eine Rolle spielen bei dem zweiwöchigen Treffen, ist selbstverständlich.

Einer der ersten Programmpunkte: eine Führung über die Anlage mit ihren unermesslich vielen Kreuzen. An einem von ihnen ist die Rede von Hermann Dänner, der mit 17 Jahren im März 1945 in der Uniform der Wehrmacht fiel. An einem anderen von dem Letten Edgars Greste, Mitglied der Waffen-SS, der als Kriegsgefangener 1946 starb. An wieder anderer Stelle vom Kriegsverbrecher Friedrich Alpers.
 

Erste Zeilen auf weißem Papier

Am nächsten Tag um dieselbe Zeit hallt Trommelklang durch offene Türen bis hin zu den Kriegsgräbern. Musik und Gedichte haben Sophie und Jesper zum Schwerpunkt in Lommel gemacht. Im Erdgeschoss herrscht Klangchaos mit afrikanischen Trommeln, das überraschend schnell zu rhythmischem Miteinander wird. Im Freizeitraum im Keller geht es um das Format Poetry Slam – einen lyrischen Wettbewerb –, füllen sich weiße Blätter mit ersten Zeilen. Später werden die Gedichte und Texte bei einer Performance zu hören sein.

Sieben halbe Tage sind für diese beiden Workshops geplant. Fürs Anleiten haben Jesper und Sophie Profis ausgesucht und eingeladen: Eric Reyntjens, Patrick Thys und George Comhair. Am Ende sorgen die drei Künstler dafür, dass aus allem ein Ganzes wird, dass individuelle und gemeinsame Antworten hör- und sichtbar werden, dass ein Programm entsteht – für die Performance. Es ist der Höhepunkt am letzten Nachmittag.
 

Ein Berg aus Kinderschuhen

Bis dahin erlebt die Gruppe noch Miel (Samuel) Andriesse, einen Zeitzeuge aus den Niederlanden, der häufig in Lommel zu Gast ist. Die jungen Männer und Frauen hören seine Geschichte – vom Überleben als Kleinkind in Verstecken. Von seinem Leben ohne Eltern. Von deren Tod in Auschwitz und einem Berg aus Kinderschuhen, die er dort sah, als er mit 75 Jahren schließlich den Mut fand, das Konzentrationslager zu besichtigen.
 

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Und es gibt weitere Programmpunkte: Die jungen Leute reisen nach Brüssel, ins Herz Europas, besuchen das Haus der Europäischen Geschichte. Sie sind mit dem Fahrrad unterwegs. Die Kajak-Tour und die Pflegearbeiten auf der Kriegsgräberstätte fallen wegen Dauerregens buchstäblich ins Wasser.
 

„Geschichte hilft, das Ganze zu sehen“

Wer sind wir? Wer wollen wir sein? Auch die endlosen Reihen mit Kreuzen helfen, Antworten darauf zu finden. „Wir sind so fixiert auf uns – wir vergessen die Geschichte. Sie hilft uns aber, das Ganze zu sehen“, sagt Betti, 21, die in Bukarest studiert. Wer auf das „damals“ schaut, wird empathischer, mitfühlender im Hier und Jetzt, meint sie. Und Gefühle sind universell, das spüren die Teilnehmenden aus vier Ländern.

Agnese, Studentin aus Turin, zitiert den Zeitzeugen: „Ihr seid nicht verantwortlich für das, was Eure Eltern getan haben.“ Das ist ihr wichtig. Erinnern, was war, und gleichzeitig gut miteinander auskommen – für die 22-Jährige ist das ein Schlüssel zu den Themen, die sie und die anderen in Lommel beschäftigen. Sie erlebt ein Wechselbad der Gefühle – Moment des Glücks, Momente der Trauer. Woher sie kommt? Die Antwort fällt leicht: „Ich komme aus Italien und aus Europa.“ Das ist für sie das Schönste: dass sie beides nennen kann.

Zu Hause sein „in mir selbst“

Wo sie zu Hause ist? Betti aus Rumänien findet ihre Antwort an diesem ersten Workshop-Nachmittag in kürzester Zeit: in sich selbst. Zum guten Schluss – am Tag vor dem Abschied – wird sie beim Poetry-Slam vortragen: „I transformed my home into a part of me. I became a place to be.“ (Ich verwandelte mein Zuhause in einen Teil von mir. Ich wurde ein Ort zum Leben).
(Vollständige Fassung: englisch / deutsch)

Auch Jesper und Sophie sind ihren Antworten ein ganzes Stück näher gekommen – in dieser Gruppe, aber auch in Lommel in ihrer Zeit davor. „Diese Themen sind uns bei unserem Freiwilligendienst in der JBS und auf der Kriegsgräberstätte immer wieder begegnet“, sagt die 19-jährige Sophie, die Restauratorin werden will. Wo ist meine Heimat? Wie werde ich wahrgenommen? Welche Rolle spielt meine nationale Identität? Fragen so persönlich und so drängend wie universell.

Leidenschaften als Leitfaden

Dass Klänge und Wörter bei der Suche nach Antworten in diesen zwei Camp-Wochen im Mittelpunkt standen, kommt nicht von ungefähr: Jesper will Musik studieren mit Schwerpunkt Komposition. Sophie liebt Sprache in verschiedenster Form. Ihren Leidenschaften haben sie Raum gegeben mit diesem Programm. „Es ist sehr surreal, dass jetzt zum Leben gekommen ist, was wir vorbereitet haben“, sagt die junge Frau.

Sie hofft eines: dass sie alle das, was sie hier so intensiv bewegt – die Fragen nach Heimat, Herkunft, Identität –, weitertragen „in ihre Familien, ihre Freundes- und Bekanntenkreise, ihre Länder.“ Dass das geschieht, daran besteht kein Zweifel.

Hintergrund

Freiwilligendienst in Lommel / Belgien

Grundlage des Freiwilligendienstes, den Sophie Heinig und Jesper von Borstel im „Huis Over Grenzen“ des Volksbundes gemacht haben, ist ein europäisches Förderprogramm (Europäisches Solidaritätskorps ESC). Entsendeorganisation ist IJGD (Internationale Jugendgemeinschaftsdienste) - Gesellschaft für  internationale und politische Bildung. Sophie und Jesper haben neun der zwölf Monate in Lommel verbracht und drei wegen der Pandemie zu Hause im Home Office. Von dort aus haben sie eine Ausstellung  und die Jugendbegegnung vorbereitet – mit Unterstützung der JBS und der Fachbereichs Internationale Jugendbegegnungen und Workcamps  vorbereitet. Nähere Auskunft zu Freiwilligendiensten im Ausland gibt es in den JBS des Volksbundes. Im Inland ist ein Freiwilliges Soziales Jahr möglich. Dazu informieren die Volksbund-Landesverbände.

Unterstützen Sie uns!

Der Volksbund ist ein gemeinnütziger, 1919 gegründeter Verein, der seine Arbeit vor allem aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden finanziert. In 46 Ländern pflegt und unterhält er 832 Kriegsgräberstätten. Jugend- und Bildungsarbeit ist ein weiterer Schwerpunkt.