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Damals und heute – Geschichte verstehen am Fuße der Wartburg

Erstmals in Eisenach: 22 junge Menschen aus sechs Ländern engagieren sich zwei Wochen in einem internationalen Volksbund-Workcamp

Thüringen hat viel Geschichte zu bieten. Davon überzeugten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des internationalen Workcamps im August. Von der Wartburg über die Gedenkstätte des früheren Konzentrationslagers Buchenwald bis zu „Point Alpha” – die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit war für die jungen Menschen tägliches Programm. Außerdem kümmerten sie sich um Pflege und Instandhaltung der städtischen Kriegsgräberstätten.
 

In einer Hand einen Eimer, in der anderen eine Bürste – mit dieser Ausrüstung geht Zsombor durch die Gräberreihen des Zweiten Weltkrieges auf dem Eisenacher Hauptfriedhof. Der junge Ungar studiert Politikwissenschaft und interessiert sich besonders für die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Zu Friedhöfen fühlt er sich hingezogen: „Auch wenn es komisch klingt: Ich liebe Friedhöfe.“ Ein Freund hat ihn deshalb auf das Volksbund-Workcamp aufmerksam gemacht. „Das ist mein erstes, aber sicher nicht mein letztes Camp“, ist der Student überzeugt. Auch nach Deutschland möchte er zurückkommen.
 

Historische Orte – malerische Landschaft

Beeindruckt von Deutschland, seiner Kultur und Natur ist auch Aykun aus Istanbul. Für den Elftklässler ist es ebenfalls die erste Camp-Erfahrung. In der Mittelstufe hat er bereits eine Reise nach Deutschland gemacht und damals beschlossen, eines Tages wiederzukommen. Nun säubert er mit den anderen Grabsteine von Opfern der Bombenangriffe auf Eisennach im letzten Kriegsjahr.

„Ich habe schon viel über den Ersten und Zweiten Weltkrieg gelernt“, berichtet der junge Türke. „Auch mit dem Leben in der DDR haben wir uns auseinandergesetzt und mit zwei Zeitzeugen aus Ost- und Westdeutschland gesprochen.“ Den Thüringer Wald hat Aykun wandernd erkundet. Die Altstädte von Erfurt und Eisenach mit ihren historischen Gebäuden gefallen ihm gut.
 

„Das hat mich tief bewegt“

Besonders schwer wiegen die Eindrücke, die der Besuch im Konzentrationslager Buchenwald bei dem Schüler hinterlassen haben. „An einem solchen Ort zu sein, sich die Ereignisse vor Augen zu rufen, ist sehr schwer und hat mich tief bewegt“, berichtet Aykun.

Für Delia aus Süditalien ist es schon das zweite Volksbund-Camp. „Ich finde es großartig, viele Leute aus ganz Europa zu treffen und ihre Kulturen kennenzulernen“, erzählt die Oberstufenschülerin. Diese Begegnungen, die Tage in der Gruppenunterkunft sowie die Gemeinschaftsabende wird die Italienerin besonders in Erinnerung behalten.
 

Engagement für die Gesellschaft

„Mir ist es wichtig, etwas für die Gesellschaft zu tun“, sagt Jan. Der Abiturient aus Offenbach gehört mit vier Workcamps zu den „alten Hasen“. Er fragt auch nach den Schicksalen, denn viele der Toten waren in seinem Alter, manche sogar jünger. Auch Jan ist von dem Besuch in Buchenwald tief bewegt. „Es war nicht mein erster Besuch in einem Konzentrationslager, aber erstmals habe ich Fotos von Opfern gesehen, die sich in mein Gedächtnis eingebrannt haben“, berichtet er. „So etwas darf nie wieder passieren!“

Der 17-jährige Horia aus Rumänien war 2022 in einem Camp in Dresden. „Unser Ausflug zu ‚Point Alpha’ und das Gespräch mit Zeitzeugen haben mir die Augen geöffnet“, sagt der Oberstufenschüler. „Erst in diesem Camp ist mir die deutsche Teilung richtig bewusst geworden. Früher habe ich immer nur auf das geteilte Berlin geguckt, aber dieses Schicksal betraf ja das ganze Land!“
 

Verschiedene Perspektiven

Auch für den Ungarn Màtyàs ist es das zweite Camp. Vor einem Jahr war er in Rostock. Zwei Aspekte sind ihm besonders wichtig: neue Leute kennenlernen und etwas Nützliches für die Gesellschaft tun. „Buchenwald hat einen großen Eindruck bei mir hinterlassen“, erzählt der zukünftige Elektroingenieur. „Erst vor Ort habe ich realisiert, wie schlimm die Situation für die Juden wirklich war.“

Igor haben die Eltern bei diesem Workcamp angemeldet. Mit Seifenwasser Grabsteine zu reinigen, war nicht seine Entscheidung. Trotzdem gefällt dem polnischen Schüler das Workcamp. „Ich finde es gut, dass wir Geschichte aus verschiedenen Perspektiven betrachten“, sagt er. „Bisher hatte ich nur den polnischen Blick, jetzt lerne ich auch die Sicht anderer Länder kennen.“ Igor möchte wieder ein Camp besuchen – auf eigenen Wunsch.
 

Glückliche und traurige Momente

„Ich möchte mit anderen zusammen sein und gemeinsam etwas erreichen“, erzählt Irem aus der Türkei. Die Architekturstudentin ist zum ersten Mal in Deutschland. Das Pflegen der Gräber ist für sie eine wichtige Arbeit, ein Dienst für die Allgemeinheit. „In diesem Camp verbinden sich glückliche und traurige Momente. Wir erleben Gemeinschaft, schaffen Verbindungen zwischen Nationen, aber lernen auch viele historische Details, die oft kaum zu ertragen sind.“ Sie habe den Schmerz der Opfer, das Leid der Familien in Buchenwald regelrecht körperlich spüren können, sagt Irem.

Thilo aus Baden-Württemberg möchte im Camp vor allem neue Freunde finden und seine Sprachkenntnisse vertiefen. Das ist gelungen: Die Camp-Sprache ist Englisch und der Team-Spirit deutlich zu spüren. Ähnlich sieht das auch Szymon aus Polen: Der Schüler genießt die Zeit mit neuen Freunden.
 

Inspiration für zukünftige Lehrer

Für Benedek aus Ungarn ist es bereits das vierte Camp – und das dritte mit seinem deutschen Camp-Freund Jan. Als er noch zur Schule ging, hatte ihm seine Deutschlehrerin von dem Volksbund-Angebot erzählt und beim Ausfüllen der Bewerbung geholfen. Benedek studiert Geschichte und internationale Beziehungen. Er will Geschichtslehrer werden. Viel von dem, was er im Camp lernt, möchte er in seine Arbeit einfließen lassen.

Auch die Teamerin Ronja Heinrich möchte eines Tages als Geschichts- und Englischlehrerin vor Schulklassen stehen. Vor einem knappen Jahr hat sie beim Landesverband Thüringen ihren Bundesfreiwilligendienst begonnen, der nun bald zu Ende geht. Die Arbeit im Camp empfindet sie als inspirierend und berührend. „Es freut mich, wenn junge Menschen ihre Komfortzone verlassen und sich mit schwierigen Themen beschäftigen. Mir ist es wichtig, Verknüpfungen herzustellen, auf Zusammenhänge hinzuweisen. Manche Namen oder Symbole tauchen in unterschiedlichen historischen Kontexten immer wieder auf. Das aufzuzeigen, finde ich spannend.“

Ehrenamtliche Verantwortung

Zusammen mit den beiden Teamern Amelie Borgrefe und Pelle Rössling machte Ronja Heinrich im März die „Juleica”-Ausbildung („Jugendleitercard”). Das Camp in Eisenach ist ihr erster praktischer Einsatz mit Organisation, Verpflegung, Animation und Problemlösung. Als zwei Portemonnaies mit Ausweispapieren im Camp vermisst werden, müssen Ronja, Amelie und Pelle einen kühlen Kopf bewahren. Suchen, möglicherweise zur Botschaft nach Berlin fahren und gleichzeitig das Camp am Laufen halten, ist eine Herausforderung.

Die Stadt Eisenach und der Landesverband Thüringen haben sich für das internationale Workcamp des Volksbundes in der Wartburgstadt stark gemacht. „Zuvor waren wir mit unserem Camp in Gotha“, erklärt Anne Schieferdecker, Bildungsreferentin beim Volksbund. „In Eisenach wollte man uns unbedingt und hat uns regelrecht abgeworben.“
 

Stadt dankt für Engagement

Engagement und Unterstützung von Stadt und Landesverband sind überall spürbar. So nimmt Eisenachs Oberbürgermeisterin Katja Wolf an der Gedenkveranstaltung am letzten Camp-Tag teil. Bürgermeister Christoph Ihling hatte die Jugendlichen zu Beginn des Camps begrüßt. Die Ortsteilbürgermeisterin von Hötzelsroda, Sabine Heep, besucht die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei ihrem Arbeitseinsatz auf dem Soldatenfriedhof „Dürrer Hof“ in Hötzelsroda, einem Ortsteil von Eisenach.

Alle drei danken den jungen Leuten für ihr Engagement. Eine andere Form der Wertschätzung zeigt die 16-jährige Tochter von Nicole Lehmann, der engagierten Leiterin der Eisenacher Friedhofsverwaltung: Sie hat zwei Kuchen mit der Aufschrift „courage counts“ und einer Friedenstaube gebacken – das Logo zu 70 Jahre Volksbund-Jugendarbeit als süßes Dankeschön.

In rund 300 Arbeitsstunden haben die jungen Menschen 2.200 Kriegsgräber in mehreren Ortsteilen gepflegt. „Kein Grab darf vergessen werden“, ist das Credo von Rainer König, städtischer Sachbearbeiter „Grünflächen und Friedhof” und ehrenamtliches Vorstandsmitglied im Landesverband Thüringen. Er leitet die Arbeitseinsätze.

Jugendarbeit als Friedensarbeit

Über Jahrzehnte hat sich Rainer König ehrenamtlich in der Jugendarbeit des Volksbundes engagiert. „Ich möchte mich altersbedingt langsam zurückziehen und gern an Förderercamps mit den ´alten Hasen´ teilnehmen”, kündigt der 53-Jährige an.

Bereits zu DDR-Zeiten hatte der gebürtige Eisenacher den ersten Kontakt zum Volksbund. Tief bewegt sei er gewesen, als seine Mutter dank des Volksbundes und der evangelischen Kirche ein Foto vom Grab ihres gefallenen Bruders erhalten habe. Als sie den  Soldatenfriedhof in Bourdon nahe Amiens nach der Wende besuchte, hätten ihn ihre Schilderungen tief beeindruckt – „besonders die Freundlichkeit meines französischen Kollegen auf der Kriegsgräberstätte, wo doch unsere Völker damals verfeindet waren.”
 

Versprechen für die Zukunft

„Ich habe damals den Entschluss gefasst, genau mit der gleichen Liebe meine Arbeit auf den Friedhöfen in Thüringen zu verrichten und so meine Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen. Das ging nur zusammen mit dem Volksbund”, sagt der Thüringer im „courage counts“-T-Shirt und verspricht: „Sollten mich die Stadt Eisenach und der Volksbund für ein künftiges Camp brauchen, sage ich ganz sicher nicht nein.”

Der Volksbund dankt der Thüringer Staatskanzlei, die dieses Projekt finanziell durch Überschüsse der Staatslotterie des Freistaats Thüringen gefördert hat, sowie dem Ministerium für die Bereiche Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) für die Förderung aus dem Kinder- und Jugendplan des Bundes.