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„Das lässt hoffen und ist vielen ein großer Trost“

Heike Baumgärtner im Gespräch über Volksbund-Jugendarbeit in Workcamps in Zeiten des Krieges

Der Krieg in der Ukraine legt einen Schatten auf viele Arbeitsfelder des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Auch die Jugendarbeit, die es seit fast 70 Jahren gibt, ist unmittelbar betroffen. Darüber sprachen wir mit Heike Baumgärtner aus Konstanz.
 

Sie machen seit 2002 als Bildungsreferentin Jugendarbeit beim Volksbund – was war Ihre erste Reaktion nach dem russischen Angriff auf die Ukraine?

Entsetzen, Hilflosigkeit, Angst – ich war anfangs vor allem in Bezug auf meine Arbeit wie gelähmt. Nach 20 Jahren Friedensarbeit mit jungen Menschen aus ganz Europa und darüber hinaus war da eine ganz große Mut- und Ratlosigkeit. Gespräche und Austausch haben geholfen, mit dem Unbegreiflichen umzugehen.

Auch wenn ich mich seit zwei Jahrzehnten hauptberuflich mit den Gräbern von Kriegstoten befasse, ging es mir nicht anders als allen anderen: Da waren viele Fragen und keine Antworten. In den ersten Wochen hatten wir ja alle die – wie wir heute wissen – naive Hoffnung, dass sich diplomatische Wege finden lassen, diesen Krieg und damit das Leid der Ukrainerinnen und Ukrainer zu beenden oder noch Schlimmeres zu verhindern.
 

Wie ist die Situation am Beginn der Workcamp-Saison 2022?

Der Volksbund hat seine Jugend- und Bildungsarbeit in Friedenszeiten begonnen: 1953. Ausgangspunkt sind bis heute die Toten des Zweiten Weltkrieges und – vor allem in den Jahren 2014 bis 2018 – auch die des Ersten Weltkrieges. Alle diese Gräber mahnen zum Frieden.

Der Versöhnungsgedanke spielte in den ersten Jahrzehnten eine überragende Rolle und zuletzt haben viele geglaubt, dass die Versöhnung unter den Völkern abgeschlossen ist. Ich denke, auch da haben wir uns geirrt. Weder Versöhnung noch Frieden sind Status Quo.

In der Workcamp-Saison 2022, die gerade beginnt, haben wir eine komplett veränderte Lage in Europa. Wir können die Situation von Menschen im Krieg nicht mehr nur aus der historischen Perspektive betrachten und Lehren ziehen. Alles, was junge Menschen nur aus Geschichtsbüchern kennen, passiert jetzt mitten in Europa: Soldaten sterben, Zivilisten fallen Kriegsverbrechen zum Opfer, Million von Menschen verlieren ihre Heimat.

 

Was ist für Sie aktuell die gravierendste Folge?

Zum einen mussten wir die für Russland und die Ukraine geplanten Projekte absagen. Vor allem in Belarus und Russland werden wir auf absehbare Zeit keine Angebote für internationale Gruppen mehr machen können. Dabei waren uns diese Projekte immer ganz besonders wichtig, vor allem mit Blick auf den deutsch-russischen Dialog. Langjährige Kontakte zu Partnerorganisationen, Bildungsträgern und  persönliche Kontakte liegen auf Eis, zivilgesellschaftliche Kontakt sind nicht mehr möglich.

Bei unseren internationalen Camps hatten wir bis vor Corona in fast jeder Gruppe ukrainische, belarussische und russische Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Das war in den allermeisten Fällen sehr harmonisch, ist jetzt aber nicht mehr möglich - Ausnahmen bestätigen die Regel. Für einige Workcamps haben sich Ukrainerinnen angemeldet.

 

Hat sich die Botschaft des Volksbundes an junge Menschen geändert?

Der Volksbund hat das „Nie wieder“ als Mahnung, als Botschaft und als Lehre aus der katastrophalen Geschichte Deutschlands zwischen 1933 und 1945 in allen Bereichen der Arbeit postuliert. Mit dem Krieg in der Ukraine müssen wir jetzt viele Botschaften neu formulieren und den Krieg thematisieren. Es wird vor allem für die ehrenamtlichen Leitungsteams eine große Herausforderung, dieses hochemotionale und desillusionierende Thema in den Gruppen zu behandeln und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dabei auch aufzufangen.

Die Botschaft in unseren internationalen Projekten ist: Austausch über Grenzen hinweg, Toleranz, interkulturelle Kompetenz, offener Dialog – der Frieden fängt im Kleinen an und wir alle können dazu beitragen. Diese Aussagen stimmen nach wie vor, doch der Überfall Russlands auf die Ukraine zeigt uns, wie fragil der Frieden wirklich ist.

 

Krieg, Flucht und Vertreibung waren ja auch in der jüngeren Vergangenheit aktuelle Themen. Wie hat der Volksbund in seiner Jugendarbeit darauf reagiert?

Wir haben uns schon vor dem Angriff auf die Ukraine mit der Lebensrealität junger Menschen beschäftigt. Wir haben uns mit der Zukunft Europas befasst, Menschenrechte und Demokratie thematisiert. Wir haben Vergangenheitsbezüge geschaffen und waren uns dabei stets bewusst, dass auch heute weltweit Kriege gibt und dass in Europa nicht überall seit 1945 Frieden herrscht.

Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien war bei einigen Projekten Thema, vor allem in internationalen Workcamps in Deutschland. In den 2000er Jahren waren junge Teilnehmerinnen und Teilnehmer dabei, die selbst als Kinder Krieg und Flucht erlebt hatten.Auch junge Geflüchtete haben in den vergangenen Jahren an einigen Projekten teilgenommen. Ihre Geschichte und ihre Erfahrungen haben den anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Auswirkungen von Krieg und Flucht deutlich vor Augen geführt.

„Unserer Aufgabe ist es mehr denn je, junge Menschen zu motivieren, sich für Frieden einzusetzen.“

Heike Baumgärtner

Was ist das Ziel, wenn Sie heute Gruppen in Workcamps willkommen heißen?

Es geht nicht mehr nicht mehr nur darum, Frieden wahren, sondern Frieden zu schaffen. Was sich verändert, ist der Umgang mit dem Thema Frieden an sich – in vielerlei Hinsicht. Ich nutze oft ein Zitat von Fritz Bauer. Als jüdischer Generalstaatsanwalt hat er sich im Nachkriegsdeutschland für eine demokratische Justiz und die konsequente strafrechtliche Verfolgung nationalsozialistischen Unrechts eingesetzt. Er hat gesagt: „Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist Gegenwart und kann wieder der Zukunft werden.“ Das hat sich auf tragische Weise bewiesen.

Die Ausgangsbasis unserer Arbeit hat sich jedoch nicht geändert: Das Grab des Kriegstoten ist ein Lernort für junge Menschen. Nun sind neue Kriegsgräber in der Ukraine hinzugekommen und täglich kommen weitere dazu. Unserer Aufgabe ist es mehr denn je, junge Menschen zu motivieren, sich für Frieden einzusetzen. Unsere ehrenamtlichen Leiterinnen und Leiter bereiten sich gemeinsam darauf vor, den Krieg in der Ukraine zu thematisieren.
 

Liegt in alldem vielleicht auch eine Chance?

Es ist sicher eine wichtige Eigenschaft des Menschen, im Schlechten Gutes sehen zu wollen und letztlich zu können. Angesichts der Bilder, die uns täglich erreichen, gelingt mir das in dieser Situation nicht. Aber die Hilfsbereitschaft und der Zusammenhalt sind groß und es macht Mut zu erleben, dass so viele Menschen sich europaweit engagieren.

Die wahre Bedeutung von Europa haben viele erst jetzt verstanden. Nicht nur im zivilen Bereich, auch auf politischer Ebenen positioniert sich Europa weitestgehend geschlossen und viele scheinen erkannt zu haben, dass wir nur gemeinsam die Herausforderungen der Zukunft meistern können.

In dieser Situation braucht es ein klares Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht aller Völker, zur Demokratie, zur Solidarität und zur Kooperation. Und das wichtigste, das unsere ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, das alle Teilnehmerinnen und Teilnehmern in unseren Projekte uns vorleben: Wir müssen uns aktiv für Frieden einsetzen. Das lässt hoffen und ist vielen ein großer Trost. Auch mir.

Frau Baumgärtner, wir danken Ihnen für das Gespräch.
 

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