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Schweigen in Großbritannien, Volksfest in den Niederlanden

Wie Deutschlands Nachbarn nationale Gedenktage begehen – Tagung zum Volkstrauertag in Rostock

Sie können und sie sollten Handlungsauftrag sein: Nationale Gedenktage wie der Volkstrauertag geben Anlass, sich für eine friedliche Gegenwart und Zukunft einzusetzen und die Perspektive der anderen zu verstehen und zu achten. Bei einer Tagung in Rostock fiel darum der Blick auf Deutschland, Polen, die Niederlande, Frankreich und Großbritannien. Gastgeber waren der Volksbund-Landesverband Mecklenburg-Vorpommern und die Konrad-Adenauer-Stiftung.
 

„‘Nie wieder Krieg!‘ greift zu kurz“, sagte Dr. Margret Seemann, die stellvertretende Vorsitzende des Volksbund-Landesverbandes, bei der Begrüßung im Schifffahrtsmuseum Rostock. Der Volkstrauertag sei Anlass, besonnen und entschieden tätig zu werden.

Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine sagte sie: „Wir können uns nicht heraushalten.“ Das Verständnis für die Perspektive der anderen – gerade auch die der östlichen Nachbarn – sei jetzt besonders wichtig. Wolfgang Wieland schloss sich an: Kreativ sein und im Austausch mit anderen neue Formen des Gedenkens entwickeln, lautete der Appell des Volksbund-Vizepräsidenten.
 

Großbritannien: „Poppy“ allgegenwärtig

Ein Symbol, ein Ort, ein Tag – in Großbritannien kennzeichnet das das nationale Gedenken. Es sei allgemein akzeptiert und für den Großteil der Bevölkerung selbstverständlich, sagte Richard Sernberg, Verbindungsoffizier an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Nicht nur Schulkinder trügen die Mohnblume („Poppy“) als Symbol, wenn sie Soldatenfriedhöfe besuchten – auch am „Remembrance Day“, dem zweiten Sonntag im November, sei die rote Blüte allgegenwärtig.

Am „Remembrance Day“ steht am „Cenotaph“ in London, dem Mahnmal mitten im Regierungsviertel, die königliche Kranzniederlegung mit Schweigeminute im Mittelpunkt. Ähnliche Veranstaltungen finden in den anderen Commonwealth-Staaten statt - auch in mehreren, die den König nicht als Staatsoberhaupt anerkennen, wie Indien und Süd-Afrika.

Am Vorabend wird das „Festival of Remembrance“ live von der BBC übertragen – ein Zeichen großer Wertschätzung für Streitkräfte und Rettungsdienste. Organisator ist die „Royal British Legion“, die Veteranen-Vereinigung. Am 11. November – dem Jahrestag des Waffenstillstands am Ende des Ersten Weltkrieges – schweigt das ganze Land für zwei Minuten. Auch dafür gebe es hohe Akzeptanz, so der Referent.

Niederlande: „Küchentisch-Initiative“

Von einer „Küchentisch-Initiative“ und schwierigem Versöhnungsprozess in den Niederlanden berichtete Dr. Marc Dierikx vom Huygens Instituut in Amsterdam.  Er schilderte den „Bevrijdingsdag“, den niederländischen Befreiungstag am 5. Mai, als fröhliches Volksfest ohne Militär in Erinnerung an das Ende der deutschen Besatzung 1945.

Am Vortag, dem nationalen Volkstrauertag („Nationale dodenherdenking“), stünden die Kriegsopfer – Zivilisten und Waffenträger – im Mittelpunkt, erklärte er. Dieser Tag gehe zurück auf die Initiative eines Trios aus Den Haag. Im März 1946 habe es im Gedenken an den Widerstand gegen die deutschen Besatzer Broschüren mit offiziellem „Anstrich“ an alle Gemeinden geschickt, so Dierikx. Allein bei Den Haag seien daraufhin rund 30.000 Menschen am 4. Mai zu einem Schweigemarsch zusammengekommen. Daraus sei dieser Gedenktag entstanden.

Noch immer begehen die Niederlande ihren Volkstrauertag – im Gegensatz zu fast allen anderen Ländern – ohne die Feinde von einst. Zum Beispiel den deutschen Bundeskanzler einzuladen, sei nach wie vor nicht möglich, sagte Dierikx, und verwies auf eine aktuelle Umfrage. Danach kann sich weniger als die Hälfte der Befragten vorstellen, dass etwa die Botschafter aus Deutschland und Japan dabei sind.

Frankreich: elf Gedenktage

In Frankreich ist der 11. November einer von elf Gedenktagen, wie Seven de Kerros schilderte. Sie alle hätten ihre Berechtigung, sagte der Verbindungsoffizier an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Über die Bedeutung des 11. November gebe es keine Diskussion in der Bevölkerung, wohl aber über die Form des Gedenkens – „einig ist man sich nur darüber, dass man sich erinnern muss.“ Auch in Frankreich schwinde das Interesse, obwohl in jedem Dorf ein Denkmal für die gefallenen Soldaten stehe.

Der Referent brachte die Begriffe „Erinnerungspflicht“ und „Erinnerungsdiplomatie“ ins Spiel. Ohne die Diplomatie wäre die deutsch-französische Versöhnung nicht möglich gewesen. Die Pflicht bestehe darin, Kriege zu verhindern, aber auch, dem Erinnerungsbedürfnis gerecht zu werden. Zu den Zielen des Gedenkens zählte er neben dem politischen und dem pädagogischen auch das wirtschaftliche – mit Blick auf den Tourismus.

Polen: Freiheit als das höchste Gut

Dr. Marcin Przybysz blickte auf die Entstehungsgeschichte des polnischen Unabhängigkeitstages (11. November), der sowohl militärischen als auch Volksfestcharakter habe. Przybysz leitet den DRK-Suchdienst in Mecklenburg-Vorpommern.

Er zeichnete das Bild von Polen als Spielball der Großmächte und schlug dabei den Bogen von den drei polnischen Teilungen im 18. Jahrhundert über den 11. November 1918 – als die Meldung über einen unabhängigen polnischen Staat verkündet wurde – bis zum Ende des Kalten Krieges und der Sowjetunion. „Die Spuren der Teilungen sind noch heute in den Köpfen“, sagte Przybysz. Die Freiheit als das höchste Gut stehe im Mittelpunkt des Gedenktages.

In den vergangenen Jahren hätten Verbände des rechten Spektrums ihn zunehmend für ihre Zwecke instrumentalisiert, sagte der Referent. „Viele fühlen sich verpflichtet, an den Demonstrationen an diesem Tag teilzunehmen, ohne dass sie diesen Verbänden nahestehen“, beschrieb er die aktuelle Situation.

Volkstrauertag im Wandel der Zeit

Für den Volksbund blickte Dr. Dirk Reitz auf deutsche Feier- und Gedenktage zurück. Seit 1813 ist das namentliche Gedenken üblich, das bis heute ein Leitmotiv der Volksbundarbeit ist. Nach 1918 sei in Deutschland weder ein verbindlicher Gedenktag noch ein zentraler Ort der Erinnerung möglich gewesen, sagte der Geschäftsführer des Landesverbandes Sachsen. Lange Zeit blieb der Volkstrauertag eine „halbamtliche Veranstaltung“, so Reitz.

Kontinuität und Diskontinuität kennzeichnen seine Geschichte. Das – immer wieder veränderte – Totengedenken, das der Bundespräsident bei der Zentralen Gedenkstunde im Bundestag verliest, sei ein Spiegel des gesellschaftlichen Wandels. Dass mit dem Einsatzgedenken ein zweiter Text entstanden ist, der Tod und Leid als Folge von Auslandseinsätzen für die Bundeswehr thematisiert, sei ein weiteres Beispiel. Nach wie vor fehle eine verbindliche Formensprache, ein Symbol.

Lang war die Liste der Herausforderungen, die Reitz nannte, um den Volktrauertag in der Gesellschaft auch in Zukunft stärker zu verankern. Sie reichte von der „Konkurrenz“ mehrerer Gedenktage über den Stellenwert in der historischen Bildung bis zum demographischen Wandel und der Entwicklung hin zur einer Migrationsgesellschaft in Deutschland.
 

Wunsch nach europäischem Gedenken

Karsten Richter, Geschäftsführer im Landesverband Mecklenburg-Vorpommern, dankte allen Referenten, bevor Wolfgang Wieland abschließend einen Wunsch formulierte: Statt der Betonung des Nationalen möge in Zukunft irgendwann ein gemeinsames europäisches Gedenken möglich sein.

Mit Marcin Przybysz führte Karsten Richter im Anschluss noch ein Interview über die Erinnerungskultur in Polen.

Der Volkstrauertag war auch Thema einer Diskussion bei der Tagung. Einen Bericht und ein weiteres Interview dazu finden Sie hier: Volkstrauertag muss bleiben und sich ändern.
 

Volkstrauertag aktuell

In diesem Jahr fällt er auf den 13. November. Die Zentrale Gedenkstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages unter Schirmherrschaft der Bundestagspräsidentin beginnt um 13.30 Uhr und wird im ZDF, auf Phoenix und im Parlamentsfernsehen live übertragen.

Der Volksbund stellt über das Gedenkportal umfangreiches Material zur Vorbereitung einer Veranstaltung zur Verfügung. Dazu gehört auch das Geleitwort von Präsident Wolfgang Schneiderhan und Hörfunk-PR.

Einen Rückblick auf den Volkstrauertag bis zum 5. März 1922 finden Sie hier:
„Unsere Welt hat die Liebe not“