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Spurensuche: Volksbund half bei Recherche und Dreharbeiten

„Von dem, was bleibt“ – junge Regisseurin ist mit Film beim Kasseler Dokumentarfilm- und Videofest vertreten

„Ich wollte schon mit drei Jahren meinen Urgroßvater suchen“, sagt Johanna Groß. Die 32-jährige Absolventin der Kunsthochschule Kassel versucht in ihrem Dokumentarfilm, das Schicksal ihres im Zweiten Weltkrieg vermissten Urgroßvaters zu klären und zu zeigen, was das Fehlen des Vaters und Großvaters für die Familie bedeutet. Die Spurensuche führte sie von Nordhessen über Berlin bis nach Moldawien. Christina Söder und Diane Tempel-Bornett sprachen mit ihr.

 

War die Suche nach Ihrem Urgroßvater ein Thema in Ihrer Familie?

Ja, klar. Es war schon immer ein Thema, dass es da einen Urgroßvater gibt, der verschollen ist. Ich spreche auch in dem Film davon, dass ich – als ich so drei Jahre alt war – den Urgroßvater suchen wollte. Ich wusste also schon, dass es ihn gegeben hat und dass er nicht gestorben, sondern verschwunden war.

 

Wann ist die Idee aufgekommen, die Suche zu verfilmen?

Während meines Filmstudiums 2016 kam ich auf die Idee, mich mit meiner Familie zu beschäftigen. Das Thema transgenerationale Transmission war mir wichtig. Den letzten Anstoß gab letztendlich mein Professor.
 

Wie hat Ihre Familie reagiert?

Ich habe tatsächlich mehr Angst gehabt, als begründet war. Erst habe ich mit meinem Vater gesprochen, dann mit meinen Großeltern. Mein Vater fand die Idee gut, aber wollte nicht unbedingt Teil des Films werden.

Meine Großeltern hatten keine großen Hemmungen. Sie haben mir voll und ganz vertraut, dass ich die Geschichte gut aufarbeite.

 

Sie haben bei der Suche viele Begegnungen gehabt. Welche hat Sie am meisten beeindruckt?

Die Begegnung mit Lutz Müller, Umbetter für den Volksbund in Moldawien, war für uns alle besonders und sehr herzlich. Ich habe so viele Menschen kennengelernt! Auch Ludwig Below, der für uns die Feldpostbriefe meines Urgroßvaters transkribiert hat, war beeindruckend. Er ist ein richtiger Sammler. Als ich Kontakt zu ihm aufnahm, war er sofort bereit, uns zu helfen.

 

Wie viele waren Sie in Ihrem Team?

Das Kernteam waren Daniel, der Kameramann, und ich. Magdalena Bernard hat den Ton übernommen. Später kamen in der Postproduktion noch Michael Brummer und Bernd Seidendorf hinzu, die ganz wundervolle Musik für den Film komponierten.

 

Wie lange waren Sie mit dem Film beschäftigt?

Wir haben im Frühjahr 2020 begonnen – direkt zu Beginn der Pandemie. Wir hatten auch Sorgen wegen meiner Großeltern. Wie alle wussten wir zu der Zeit nur wenig über Corona und hatten Angst, sie anzustecken. Wenn wir uns getroffen haben, waren wir eher draußen. Die ersten Dreharbeiten begannen im Winter 2020. Im Sommer 2021 sind wir dann nach Moldawien gefahren und hatten eigentlich wahnsinnig Glück, denn ein halbes Jahr später begann der Krieg in der Ukraine.

 

Waren die Leute in Moldawien bereit zu helfen oder wollten sie eher nicht über die Vergangenheit reden?

Als wir eine Spur in Gîsca, Transnistrien, gefunden hatten – von hier stammte die letzte Postkarte, die mein Urgroßvater geschickt hatte – begannen wir, in den Straßen nach Menschen zu suchen, die uns unterstützen konnten. Wir hatten eine Dolmetscherin dabei. Aber niemand konnte oder wollte uns helfen. Wir waren den ganzen Tag unterwegs, klopften an viele Türen und fragten jeden, der uns über den Weg lief – niemand wohnte lange genug in Gîsca, niemand hatte zu der Zeit bereits gelebt.

Es ist sehr gut möglich, dass es an einer anderen Erinnerungskultur liegt und der Zweite Weltkrieg in den Lebenssituationen der Menschen heute keine Rolle spielt. Moldawien gilt als das ärmste Land Europas und die abtrünnige Republik Transnistrien als dessen ärmste Region (Anmerkung der Redaktion: Transnistrien ist eine selbsternannte Republik auf moldawischem Gebiet, die nach dem Zerfall der Sowjetunion entstanden, aber nicht international anerkannt ist). Aber so viel Gastfreundschaft wie hier haben wir nirgends auf unserer Reise erlebt. Die Menschen waren herzlich, aber wollten oder konnten nicht über den Zweiten Weltkrieg sprechen. Nur durch Zufall trafen wir am Ende des Tages auf dem Gelände der Kirche einen orthodoxen Priester.

Können Sie diesen Tag mit der Begegnung in der Kirche, den alten Frauen und dem Priester zusammenfassen?

Als wir den Priester trafen, erhielten wir so viele Informationen, mit denen wir nie mehr gerechnet hätten. Er sprach für uns – abseits der Kamera – mit ein paar alten Frauen aus seiner Gemeinde, die sich an das Lager der Deutschen erinnerten. Als die Kesselschlacht Jassy Kischinew begonnen hatte, war das Lager schnell von russischen Einsatzkräften überrollt worden. Angeblich konnte sich eine Frau erinnern, dass die Deutschen in der Mitte des Lagers zusammengetrommelt und schließlich erschossen worden waren. Angeblich befindet sich auf dem Feld, auf dem einst das Lager stand, ein Massengrab. Niemand aus dem Dorf wollte dort ein Haus bauen wollen. Ob die Geschichte stimmt, kann ich nicht sagen.

Auf dem Feld habe ich eine symbolische Nachricht an meinen Urgroßvater hinterlassen. Ich habe ihm berichtet, wie es seiner Frau, seiner Tochter ergangen ist, habe seine Rolle im Zweiten Weltkrieg reflektiert und mich letztendlich von ihm verabschiedet.

 

Sie waren auf einer Suche, die nur wenige Menschen auf sich nehmen würden, haben sozusagen den phantastischen Wunsch der dreijährigen Johanna erfüllt. Macht Sie das stolz? Oder was denken Sie darüber?

Ich bin mir nicht sicher, ob ich von Stolz reden kann, aber ich habe das Gefühl, einen „Familienauftrag“ erfüllt zu haben. Ich konnte einen Erzählstrang zu Ende bringen, der schon sehr, sehr lange hätte beendet werden sollen. Bei den Dreharbeiten war ich 32 Jahre alt – genauso alt wie mein Urgroßvater, als sich seine Spur verlor. Auf eine ganz eigenartige Weise hatte ich das Gefühl, dieses Kapitel für meine Familie zu beenden, so dass nun eine neue Geschichte erzählt werden kann: meine Geschichte, die Geschichte meiner Schwestern und der Generationen, die auf uns folgen werden.

 

Liebe Johanna, wir danken Ihnen für das Gespräch und wünschen Ihnen für Ihre Arbeit und weitere Filmprojekte alles Gute!

Den Dokumentarfilm „Von dem, was bleibt“ kann man auf der Homepage des 40. Kasseler Dokfestes abrufen. Im Rahmen des Kasseler Dokumentarfilm- und Videofest war er im BALi im KulturBahnhof zu sehen.

Auch der Hessische Rundfunk interessierte sich für den Film von Johanna Groß und die Arbeit des Volksbundes und kam deshalb zu einem Drehtermin in die Bundesgeschäftsstelle nach Niestetal. Der Beitrag wurde am 15. November in der „hessenschau” ausgestrahlt.

Zur Volksbund-Arbeit in Transnistrien finden Sie einen Bericht in der Arbeitsbilanz 2021 (S. 8/9).