Licht in der Dunkelheit - ein Symbol der Hoffnung und Zuversicht (© Pixabay)
Eine hölzerne Kiste für das Christkind
Geschichten aus der Weihnachtszeit: Heilig Abend 1945 in einer Flüchtlingsunterkunft
Um eine Fügung des Schicksals und einen unerfüllten Herzenswunsch geht es in unserer Geschichte zum dritten Adventssonntag. Es sind die Erinnerungen von Renate Andreß aus Erlangen an das Weihnachtsfest, an dem sie sieben Jahre alt war.
„Mein Stiefvater war 1945 überraschend aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft entlassen worden. Nachdem er sich ein Fahrrad organisiert hatte, fuhr er aufs Gerade wohl einfach los. Eine Heimat gab es nicht mehr. Wir – seine Familie – waren seit Monaten auf der Flucht.
Aufbruch ins Ungewisse
Er kannte unseren Aufenthaltsort nicht, wusste nicht, dass wir noch in Eleonorenheim, also in der Tschechoslowakai, waren. Meine Mutter wiederum hatte keine Ahnung von seiner Entlassung, startete jedoch mit mir, ihrer sieben Jahre alten Tochter, am Morgen desselben Tages mit einem Fahrrad zur Grenze nach Niederbayern.
Um 12 Uhr passierten wir die Grenze. Dahinter waren wir allein auf der Schotterstraße in einem hohen, dunklen Wald. Schnaufend schoben wir das Fahrrad bergauf. Plötzlich – wir erschraken sehr – kam eine Stimme aus dem Straßengraben. Mutter warf das Fahrrad hin und schrie „Renn, was Du kannst!“ Wir rannten …
Abgemagert, aber er lebte
Dann – ein Erlösungsruf meiner Mutter. Es ist kaum zu glauben, aber mein Stiefvater, der sich auf dem Weg ins Ungewisse hier eine Rast gegönnt hatte, winkte uns zu – uns, die ebenfalls planlos unterwegs waren.
Überraschung und Dankbarkeit über das Wunder des Wiederfindens waren unbeschreiblich groß. Zwar war er bis zur Unkenntlichkeit abgemagert, aber er lebte. Wir lebten alle noch! Ein Funken Hoffnung war entzündet. Den Weg in den nächsten Ort – nach Freyung – legten wir gemeinsam zurück. Auf den Gepäckträgern klemmten zwei kleine Rucksäcke. Das war unser gesamtes Hab und Gut.
Eine Ecke in dunklem Zimmer
Erst bekamen wir ein Notquartier – eine Ecke in einem dunklen Zimmer – zugewiesen und im November 1945 ein eigenes Zimmer in einem aufgelassenen Kloster. Die Einrichtung bestand aus drei Strohsäcken und hölzernen Kisten, die meine Eltern auf der Abfallhalde der Amerikaner gefunden hatten, die in Freyung stationiert waren.
Ich wollte unbedingt auch so eine Kiste für meine Habseligkeiten und bettelte darum geduldig und eindringlich, bis meine Mutter versprach: „Der Weihnachtsmann bringt dir sicher eine hölzerne Kiste.“ Mehr war nicht zu erwarten. Niederbayern galt damals als Armenhaus Deutschlands – in manchem Marktflecken waren nahezu genauso viele Flüchtling gestrandet, wie der Ort Einheimische zählte.
„Wir haben eine Überraschung für Dich!“
Heilig Abend kam und meine Mutter meinte etwas geheimnisvoll: „Renate, zieh die Strickjacke an, wir haben eine Überraschung für Dich!“ Auf derselben Etage wie wir, in der ehemaligen Kapelle des Klosters, wohnte jetzt eine Flüchtlingsfamilie, die wir besuchten.
Der Mann begrüßte uns. Seine Frau saß auf einem Stuhl neben dem Kanonenofen. Sie hatte eine Armeedecke um sich geschlungen, denn es war kühl. Wir durften uns an den Tisch setzen.
„Ich zeige Dir das Christkind!“
Dann nahm mich der Mann bei der Hand, beugte sich zu mir herab und sagte begeistert: „Ich zeige Dir jetzt etwas ganz Besonderes, ich zeige Dir das Christkind!“ Er führte mich zu einer hölzernen Kiste, die da stand, wo vorher der Altar gewesen war. Darin schlief ein neugeborener Junge. „Schau!“, sagte der Mann mit gedämpfter Stimme. „Heute ist das Christkind zu uns gekommen.“
Strahlend deutete er auf das Kind. „Der Bub liegt ganz warm auf dem Stroh.“ Er erzählte von seiner Herbergssuche und von Geschenken, die Flüchtlingsfamilien aus dem Haus gebracht hatten: Die einen hatten Kissen geborgt. Die von oben brachten etwas Milch, andere gaben von ihrem Brot ab. „Ja – und von Euch haben wir die hölzerne Kiste als Bettchen bekommen“, sagte er.
Kerzen und Lametta – selbstgemacht
Wir gingen zurück in unser Zimmer. Dort stand ein kleines Fichtenbäumchen für mich. Auf dem brannten selbstgemacht Kerzen, die mit Draht befestigt waren. Die Zweige waren mit Lametta geschmückt. Dafür hatten die Eltern Silberpapier von Zigarettenverpackungen in feine Streifen schnitten.
Die ersehnte und versprochene hölzerne Kiste bekam ich natürlich nicht. „Darin liegt jetzt das Baby, das heute so überraschend zur Welt gekommen ist und kein Bettchen hatte. Das verstehst du doch“, sagte meine Mutter.
Später war ich beinahe stolz
Warum der kleine Junge das Christkind sein sollte, verstand ich nicht so recht. „So ein Christkind muss wohl etwas Besonderes sein“, überlegte ich im Stillen. Später war ich beinahe ein wenig stolz, weil meine Kiste damals so eine wichtige Aufgabe bekommen hatte.
Text: Renate Andreß
Unsere Geschichte zum ersten Advent spielt Jahrzehnte nach Kriegsende in Deutschland:
Musik an Soldatengräbern wie ein kleines Wunder.
Zum zweiten Advent haben wir diese Erinnerungen veröffentlicht:
Ein Baum und das Spielzeug der verlorenen Söhne.
Erinnerungen als Hörbuch
Ausgewählte Geschichten aus unserem jüngsten Weihnachtsbuch haben wir als Hörbuch veröffentlicht. „Licht in der Dunkelheit“ heißt die neue CD, die wir Ihnen gerne auf Bestellung zuschicken. Jede Geschichte ist auch direkt über die Mediathek anzuhören. Diese Erinnerungen hatten uns Mitglieder und Förderer für den vierten Band „Weihnachten in schwerer Zeit“ in der Volksbund-Buchreihe zugeschickt. Zu beziehen sind CD und Buch kostenfrei über die Mediathek und .
Wenn auch Sie noch eine Geschichte zu Weihnachten zu erzählen haben, freuen wir uns über Ihre Zuschrift oder per Post an den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, FRIEDEN-Redaktion, Sonnenallee 1 in 34266 Niestetal.