Diese Skizze hatte das polnische Rote Kreuz 1947 von einem Friedhof im Garten einer Breslauer Villa erstellt. Im März 2023 bettete eine Firma im Volksbund-Auftrag hier 128 Tote aus. (© Christiane Deuse)
Exhumierung in Breslau dank Liste und Skizze aus Archiv
Wie der Volksbund im Vorfeld eines Einsatzes recherchiert – ein ungewöhnliches Beispiel
Breslau war für den Volksbund ein besonderer Schauplatz in diesem Jahr. 128 Tote – viele von ihnen mit Namen bekannt – exhumierten Umbetter im Garten einer Villa und bestatten sie ein halbes Jahr später auf einer Kriegsgräberstätte. An diesem Beispiel beleuchten wir die Recherche im Vorfeld eines Einsatzes – Arbeit, die das Referat Gräbernachweis zusammen mit den Umbettern leistet.
In einem Archiv in Warschau stößt Tomasz Czabański, Gruppenleiter der Umbettungsfirma „Pomost“ in Polen, 2022 zufällig auf Dokumente, die für den Volksbund wichtig sind: eine Liste mit Namen und eine Skizze. Erstellt hat beides das Polnische Rote Kreuz 1947 zu einem Friedhof, der in den letzten Kriegswochen in Breslau im weitläufigen Garten einer Villa angelegt worden war. Breslau war zur Festung erklärt worden, der Platz für eilige Bestattungen im gefrorenen Boden zwischen Luftangriffen war knapp.
Abgeschrieben von Grabkreuzen
Auf der Skizze sind Gräber verzeichnet und mit Nummern versehen. Außerdem sind Namen zugeordnet – abgeschrieben von den hölzernen Grabkreuzen, soweit das noch möglich war. Ein Luftbild des polnischen Militärarchivs von 1945 bestätigt ein Gräberfeld an dieser Stelle. Diese Dokumente ermöglichen den ersten Schritt: Der Volksbund bittet die Eigentümer der Villa um Erlaubnis zur Ausbettung und beantragt die Genehmigungen bei den polnischen Behörden.
Die Villa gehört seit 2019 dem deutsch-niederländischen Ehepaar van Beuningen mit vier Kindern. „Wer hier ein Haus kauft, weiß, dass überall Menschen begraben sein können,” sagt Victoria van Beuningen.
Die Großeltern der jungen Frau waren im Breslauer Umland zu Hause. Die Familie erfuhr kurz nach dem Kauf von drei Kriegstoten, die im Garten begraben sein sollten. An den Gedenktagen erinnerte sie mit jeweils drei Laternen an sie.
Fernsehteam begleitet
In der Bundesgeschäftsstelle des Volksbundes in Niestetal bei Kassel ist jetzt das Referat Gräbernachweis gefragt, denn: Ein Fernsehteam möchte die Ausbettung begleiten und die Geschichte bis zu ihrem Ende erzählen. Das wäre möglich, wenn sich hier ein Schicksal klären ließe und Angehörige informiert werden könnten.
Sollte das machbar sein in der Kürze der Zeit? Können Ausbettung und Benachrichtigung – anders als üblich – unmittelbar aufeinanderfolgen? Die Chancen stehen dank der besonderen Dokumenten-Lage außergewöhnlich gut.
Blick in die Gräberkarten
Referatsleiter Robert Zaka sucht in der Datenbank nach den Namen der Toten, sein Team sucht Gräberkarten heraus und recherchiert in den Akten weitere Hinweise. Wichtiger Partner ist auch hier das Bundesarchiv Berlin (Abteilung Personenbezogene Auskünfte) – es liefert ergänzende Informationen. So hilft eine Liste weiter, auf der auch Zivilisten verzeichnet sind. Dazu kommt ein Hinweis in einem Buch über Kriegsgräber in Breslau. Die Autorin berichtete, dass dieser Friedhof erhalten geblieben sei und dass die Toten nach dem Krieg nicht umgebettet worden seien.
Schließlich lassen sich den Dokumenten zu Breslau 22 Verlustmeldungen zuordnen. Die Suche nach Angehörigen beginnt. Dabei stützt sich der Volksbund auf Anfragen, die er mit Meldungen zu Kriegstoten und Vermissten verknüpft. Der erste Schritt für Angehörige ist die „Gräbersuche online”. Wer da nicht zum Ziel kommt, kann einen Suchantrag stellen und wird informiert, wenn es neue Erkenntnisse gibt. Beides hilft dem Volksbund in vielen Fällen, Kontakt aufzunehmen.
Der Name Gustav Hiller
Was die Ausbettung im Garten der Villa angeht, hat das Fernsehteam erst Pech, dann Glück: Gustav Hiller ist einer der Namen auf der Breslauer Liste. Sein Sohn hatte über den Volksbund nach dem Vater gesucht – er wusste, dass Gustav Hiller irgendwo in Breslau bestattet sein musste. Der Sohn starb 2010, ohne das Grab gefunden zu haben. Mit seinem Tod verlor der Volksbund den Kontakt zu den Angehörigen.
Doch es gibt noch einen anderen Weg: Der Volksbund hat in Deutschland die Möglichkeit, Einwohnermeldeämter nach Adressen zu fragen, um Angehörige über neue Erkenntnisse zu informieren. Im Fall der Familie Hiller fragt darum das „Team Gräbernachweis“ im oberfränkischen Münchberg an – im Heimatort von Gustav Hiller – und erhält die Anschrift seiner Enkelin. Ihre Telefonnummer recherchiert eine Mitarbeiterin im Internet und nimmt Kontakt auf.
Sofort „Ja“ zu Exhumierung
Die Eigentümer des Grundstücks erteilten sofort die Genehmigung. Ein weiteres halbes Jahr vergeht, bis auch die polnischen Behörden der Ausbettung zugestimmt haben. Als der Bagger im März 2023 in den Garten der Villa rollt, ist längst klar, dass es nicht um drei, sondern um mehr als 100 Tote geht. Etliche von ihnen in Massengräbern. Das Kapitel Recherche ist damit in diesem Fall abgeschlossen.
Wie die Geschichte weitergeht, lesen Sie hier:
Frühjahr 1945 in Breslau: Garten einer Villa wurde zum Friedhof
Am Grab des Opas: „Es gibt nichts Vergleichbares in meinem Leben“.
128 Laternen leuchten im Dunkel
Nachtrag: Als die Umbetter ihre Arbeit im Garten der Villa getan hatten, war kaum noch etwas zu sehen von diesem mehrwöchigen Einsatz. An der Stelle, an der die 128 Toten fast 80 Jahre lang begraben gewesen waren, stellte die Familie van Beuningen wieder Laternen auf – eine für jede Frau, jedes Kind, jeden Mann.
Damit nicht genug: Im September war Daniel van Beuningen bei der Einbettung auf der Kriegsgräberstätte Groß Nädlitz (polnisch: Nadolice Wielkie) dabei. Bei einem Trauerfall schließlich bat die Familie um Spenden für den Volksbund statt für Blumen und Kränze. Der Volksbund dankte der Familie für die besondere Unterstützung mit einer Einladung zur zentralen Gedenkstunde am Volkstrauertag in den Bundestag und sagt auch hier nochmal danke für so viel Engagement!