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„Unsere Großväter würden uns verfluchen“

Heike Winkel vom Volksbund im Gespräch: Putin missbraucht im Ukraine-Krieg die Erinnerung an den Weltkrieg

Dr. Heike Winkel, promovierte Slawistin im Hauptstadtbüro des Volksbundes in Berlin, sprach mit Diane Tempel-Bornett über die Wirkung der Propaganda in Zeiten des Ukraine-Krieges, ihre Beziehung zu Russland und die Herausforderung für die Erinnerungskultur. In diesem Gespräch gibt die Osteuropa-Kennerin eine persönliche Einschätzung der gegenwärtigen Lage.

 

Frau Dr. Winkel, Sie haben eine lange Beziehung zu Russland. Wann begann sie?

Auf einem südhessischen Gymnasium. Russisch wurde dort als dritte Fremdsprache angeboten und das hat mich interessiert. Das war zu Zeiten von Glasnost und Perestrojka. In Westdeutschland war es noch sehr ungewöhnlich, Russisch zu lernen, ich wurde oft gefragt, ob ich Kommunistin sei. 1988 fuhr ich mit einer organisierten Schulreise das erste Mal nach Moskau und St. Petersburg. Da hat es dann gefunkt und das Land hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. Ich studierte Germanistik und Slawistik, anfangs in Heidelberg, dann ein Jahr in Moskau und dann in Berlin. Nach meiner Promotion unterrichtete ich Literaturen und Kulturen Osteuropas an der FU Berlin. Vor einigen Jahren kam ich dann zum Volksbund.
 

Hätten Sie sich je diese Situation, einen Krieg vorstellen können?

Es war spätestens seit der „Orangenen Revolution“ in der Ukraine 2004 klar, dass das Land sich vom russischen Einfluss zu befreien versucht. Seitdem wurde das beiderseitige Verhältnis immer schlechter. Als im Herbst 2013 der damalige Präsident Janukowitsch die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der EU verweigerte, gingen die Menschen wieder auf die Straße. Die Majdan-Revolution konnte zwar einen Regimewechsel erzwingen. Aber Russland annektierte in der Folge 2014 völkerrechtswidrig die Krim und begann, im Donbas verdeckt prorussische Separatisten zu unterstützen. Seitdem herrscht de facto Krieg in Teilen der Ukraine. Aber ein auf die Eroberung des ganzen Landes abzielender Angriff mit Panzern, Artillerie, Luftwaffe und Seeflotte – das hätte ich mir nicht ausmalen können.
 

Wie schätzen Sie die Situation ein?

Ich bin keine Militärexpertin und kann wenig Sachkundiges zum Kriegsverlauf sagen. Dass die Invasion nicht „nach Plan“ der russischen Regierung verläuft, scheint offensichtlich. Aber solange man nicht damit rechnen kann, dass der andauernde Beschuss militärischer und ziviler Ziele aufhört und auch nukleare Einrichtungen bedroht sind, ist das wenig tröstlich. Mich entsetzen die Nachrichten aus vielen Städten, vor allem im Osten des Landes, in denen auch die Zivilbevölkerung massiv unter den Angriffen leidet. Schon am 28. Februar hat der Internationale Strafgerichtshof hinreichende Belege für die Annahme gesehen, dass in der Ukraine sowohl mutmaßliche Kriegsverbrechen als auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden. Deren Zahl steigt mit dem Kriegsverlauf stetig. 
 

Was will Putin denn jetzt erreichen?

Ich beobachte, dass die russische Strategie eindeutig darauf ausgerichtet ist, die Ukraine als souveränen Staat zu vernichten. Wenn eine komplette Eroberung nicht gelingen kann, setzt man auf die Zerschlagung in Kleinstaaten, die zwangsläufig unter russischem Einfluss stehen. Die Versuche, in Cherson eine weitere sogenannte „Volksrepublik“ zu etablieren, zeigen das deutlich. Der Widerstand aus der Bevölkerung ist beeindruckend.

Jenseits des unmittelbaren militärischen Konflikts ist die Lage in Belarus und Russland katastrophal. Belarus befindet sich in Geiselhaft Lukaschenkos, die drohende Front von dort ist eine zusätzliche Gefahr für die Ukraine. In Russland, wo die Zivilgesellschaft bereits seit Jahren unterdrückt wird, werden nun mit diktatorischer Gewalt alle verbliebenen kritischen Stimmen zum Schweigen gebracht. Mutige Menschen stellen sich dem noch entgegen und setzen sich dabei einem hohen Risiko aus. Die breite Bevölkerung aber schweigt, aus Angst oder Opportunismus. Putins Politik findet auch Unterstützung, nicht wenige glauben leider die Lügengeschichten der Propaganda, die in Russland seit Jahren über die Ukraine verbreitet werden. 
 

Was sind das für Geschichten? Wie bewerten Sie sie?

Spätestens seit 2014, also seit dem Einmarsch irregulärer Truppen im Donbas und der Annexion der Krim, wurde in den russischen Staatsmedien die Erzählung verbreitet, in der Ukraine seien rechtsradikale, faschistische Kräfte dominant und die russischsprachige Bevölkerung werde unterdrückt. Diese Verleumdungskampagne war leider sehr effektiv und hat die absolut irrige Behauptung in die Welt gesetzt, Russland werde durch die Ukraine bedroht. Zu dieser Desinformation gesellen sich imperialistische Mythen. Im Juli 2021 hat der Kreml einen Aufsatz von Wladimir Putin mit dem Titel „Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern“ veröffentlicht, in dem er der Ukraine das Existenzrecht abgesprochen und die „Dreieinigkeit“ von Russland, Belarus und der Ukraine beschworen hat, die für ihn den historischen Kern der „Russischen Welt“ ausmacht. Der Artikel wurde breit rezipiert, vorwiegend als geschichtsphilosophisches Traktat. Heute steht fest, dass hier ein geopolitisches Programm vorgelegt wurde, das nun umgesetzt wird. 
 

Nun wissen wir, dass da sich nicht nur ein Hobbyhistoriker bemüht hat. Was steckt hinter der sogenannten „Entnazifizierung der Ukraine“?

In seinen demagogischen Fernsehansprachen am 21. und 24. Februar 2022 hat Putin die entsprechenden Kriegsziele klar benannt: Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine. Dabei hat er sich ausdrücklich auf den Zweiten Weltkrieg bezogen und erklärt, dass die Sowjetunion 1940 und auch noch Anfang 1941 alles versucht habe, um einen Krieg abzuwenden und für diese Appeasement-Politik dann bitter bezahlt habe. Diesen Fehler werde man nicht ein zweites Mal begehen. Dieser Vergleich des aktuellen Krieges mit dem „Großen Vaterländischen Krieg“ ist ungeheuerlich. Er zeigt, dass die staatliche Organisation einer öffentlichen Erinnerung nicht mehr nur ein Mittel zur Stiftung einer nationalen Identität ist, sondern ein Instrument zur Mobilisation der Bevölkerung gegen einen Nachbarstaat, der einst gemeinsam mit Russland den Nationalsozialismus besiegte.

In der Inszenierung der Veranstaltung zum Jahrestag der Krim-Annexion im Moskauer Stadion „Luschniki“, wurde das „Z“ als Symbol für eine Bewegung zur Unterstützung des Krieges in einer Art eingesetzt, die sehr bedenklich ist. Putin hat die Bevölkerung hier mit martialischen Worten auf den Krieg eingeschworen.  
Dazu kommt, dass die demokratisch gewählte Regierung der Ukraine und Präsident Selenskyj persönlich, ein russischsprachiger Jude und Nachkomme von Holocaust-Überlebenden, als Faschisten verunglimpft werden. Diese perfide Umkehr von Opfern zu Tätern ist zutiefst antisemitisch und rechtsradikal.

Welche Herausforderungen für Erinnern und Gedenken ergeben sich daraus?

Meine persönliche Meinung ist: die deutsche Öffentlichkeit, insbesondere erinnerungskulturelle Akteurinnen und Akteure, müssen solchen fatalen Geschichtsverzerrungen entschieden entgegentreten. Gleichzeitig bleibt für Deutsche die historische Verantwortung für die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs und ihre umfassende Aufarbeitung unverändert bestehen.

Unsere Aufgabe ist in vielerlei Hinsicht nun noch schwieriger geworden. Ich höre jetzt schon vielerorts, dass Menschen dem Gedenken an den Zweiten Weltkrieg kritisch gegenüberstehen, weil „die Russen“ jetzt wieder Krieg führen. Eine solche Einstellung ist gefährlich, weil sie die Logik, der Sieg im Zweiten Weltkrieg sei allein ein russisches Verdienst, fortschreibt. Wir müssen umgekehrt weiter und noch konsequenter die multinationale Geschichte der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg erzählen und die Erinnerung dekolonialisieren. Und wir müssen von nun an den Missbrauch der Geschichte mit erinnern. Das sind wir auch den Menschen in Russland schuldig. Ich habe in diesen Tagen mit einer Kooperationspartnerin dort korrespondiert, die sich ihr Leben lang für historische Aufarbeitung und Schicksalsklärung eingesetzt hat. Nun liegt all das in Trümmern. Sie schreibt mir: „Unsere Großväter würden uns verfluchen. Vor allem meiner, der liegt im Kameradengrab in Charkiw, er ist 1943 im Befreiungskampf gefallen.“ Der Fluch muss gebannt, der Krieg gestoppt werden.

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